Schönheit liegt im Auge des Betrachters und was hierzulande als schön empfunden wird, gilt in einigen Ländern dieser Welt als abstossend. Wo Hängebrüste im Trend liegen und Lippenteller ein Statussymbol sind.

 

Text: Yvonne Beck

Vor allem in den Dritte- und Vierte-Welt-Ländern herrscht ein anderes Schönheitsideal vor, das eher dem wohlbeleibten europäischen Ideal der Barock-Zeit ähnelt. Ausladende Gesässe und beachtliche Hüftringe sind bei afrikanischen und indischen Frauen sehr populär, gelten sie doch in diesen von Armut geprägten Ländern als Zeichen für Wohlstand und Fruchtbarkeit. Ein Schönheitsideal, welches in unseren Breitengraden zwar längst passé ist, aber noch einleuchtend erscheint. Andere wiederum stossen auf Kopfschütteln, wenn nicht gar Entsetzten, muten sie Europäern doch meist recht barbarisch an.

Unterlippenschmuck
Das auch bei uns bekannte sogenannte Labretpiercing kann auf eine lange Geschichte zurückblicken und war, beziehungsweise ist nach wie vor traditionell bei unterschiedlichen Ethnien in Afrika, Asien und Lateinamerika fester Bestandteil der Kultur. Besonders die Surma, ein in Afrika ansässiger Stamm, erlangten weltweite Bekanntheit durch den traditionellen Schmuck ihrer Frauen. Diese schmücken sich mit so genannten Lippentellern aus Holz oder Ton.

Ursprünglich war der Teller ein Signal an die Männer, dass eine Frau bereits vergeben ist. / Bild: © shutterstock.com

Vor ihrer Hochzeit, etwa im Alter von 20 Jahren, beginnt die Prozedur. In die durchbohrte Unterlippe wird der erste, mehrere Zentimeter grosse Teller eingesetzt. Mit immer grösseren Tellern, meist aus Ton gefertigt, wird die Lippe im Lauf von sechs bis zwölf Monaten gedehnt, so weit es geht. Der durchschnittliche Durchmesser der Lippenteller liegt bei 15 Zentimeter. Was auf westliche Zuschauer wie eine groteske Verstümmelung wirken mag, gilt bei den Surma als wichtiges Schönheitsideal. Je grösser der Lippenteller einer Frau, umso höher wird der Brautpreis für sie ausfallen. Ein grosser Teller kann die Familie eines Bräutigams manchmal bis zu 60 Rinder kosten und die endgültige Auswahl des Bräutigams trifft hier immer noch die Frau. Was heute Schönheitsideal ist und den Brautpreis ausmacht, stammt ursprünglich jedoch aus der Zeit der Sklaverei. Durch die Lippenteller sollten die Frauen auf die Sklavenjäger und Männer der Nachbarstämme besonders unattraktiv wirken.

«Wer schön sein will, muss leiden.»

Bei Frauen sind zudem Ziernarben üblich. Bild: © shutterstock.com

Traditionelle Surma-Frauen schmücken sich auch heute noch sowohl mit Lippentellern als auch Ohrtellern. Gewöhnlich werden sie nur zum Schlafen oder wenn keine Männer anwesend sind herausgenommen. Bei Frauen sind zudem auch Ziernarben üblich, vorwiegend an den Armen und am Oberkörper, die man heute mit Rasierklingen einritzt. Auch einige Männer verschönern sich mit Ziernarben, in der Regel durchstechen sie sich jedoch nur die Ohrläppchen und setzen dort, wie die Frauen, kleine Tonteller ein. Da Tonteller sehr leicht brechen, sind viele Surma-Frauen andauernd damit beschäftigt, neue Teller zu formen. Im Nordpazifik und bei verschiedenen indigenen Völkern galt der Lippenring, -pflock oder -teller mitunter als Teil eines Initiationsritus oder wurde zur Hochzeit gestochen, vergleichbar mit einem Ehering. Alte Statuen zeigen, dass der Lippenteller bereits bei den Azteken und Inkas bekannt war. Getragen wurde er dort von Männern höherer Gesellschaftsklassen und war zumeist aus Gold und Schmucksteinen gefertigt. Bei dem Stamm der Kololo tragen Frauen die Scheiben in der Oberlippe. Gemäss dem Verständnis der Kololo hat der Mann einen Bartwuchs als schmückendes Element; der Frau hingegen fehlt es an natürlich gegebenen Schönheitsmerkmalen, weswegen die Lippenscheibe eine optische Aufwertung darstellt. Im westlichen Kulturkreis hat sich das Lippenpiercing besonders in den 1990er Jahren etabliert und ist häufig modischer Bestandteil verschiedener Sub- und Jugendkulturen, beispielsweise in der Technoszene der Punk-Bewegung. Stark geweitete Labrets oder Lippenteller werden innerhalb der westlichen Kultur seit Ende des 20. Jahrhunderts zwar auch, allerdings nur als äusserst seltene Randerscheinung getragen.

 

 

Auf kleinstem Fuss
Wer schön sein will, muss leiden. Das galt auch im alten China.  Über tausend Jahre lang wurde in China die Schönheit der Frauen an ihren Füssen gemessen. Um den chinesischen Männern zu gefallen und sich die Chance auf eine Heirat zu erhalten, mussten sich die Frauen im Reich der Mitte die Füsse verkrüppeln.

Dies ist kein Kinderschuh, sonder der einer erwachsenen Frau mit Lotusfüssen. / Bild: © shutterstock.com

Eine Frau mit normal gewachsenen Füssen hatte keine Heiratschance. Um winzige, lotusblütenartige Füsse zu bekommen, brach man Mädchen die Füsse und schnürte sie so ein, dass die Knochen nicht mehr zusammenwuchsen. Beim ersten Einbinden, ab zwei Jahren, wurden die vier kleinen Zehen mit meterlangen strammen Bändern unter die Fusssohle gebunden, bis die Knochen brachen. Nur der grosse Zeh blieb stehen. Dann wurden Ferse und Zehen fest zusammengeschnürt, so dass der Mittelfussknochen sich bogenförmig hochbog oder brach. Der Fuss sollte später an eine Mondsichel erinnern. Der ideale Lotus- oder Lilienfuss mass acht bis zehn Zentimeter. Da die Füsse ein Leben lang gebrochen blieben, waren die Chinesinnen vor lauter Schmerz nicht einmal in der Lage, alleine das Haus zu verlassen. Aber so sollte es sein, denn tugendhaft war eine Frau, die das Haus nicht verliess. Auf den gebundenen Fussklumpen konnte sie nur humpeln und war an das Haus gefesselt. Wohlhabende Damen liessen sich in Sänften tragen oder aber von ihren Dienern huckepack. Frauen, die sich das nicht leisten konnten, drückten sich wie Stöcke an der Wand entlang. Manche sollen sich auch auf zwei Hockern kniend durch das Haus geschoben haben. Nur wenige Mütter hatten Mitleid mit ihren Kindern und entfernten die Bandagen, damit die Füsse heilen und wachsen konnten. Diese Mädchen wurden später gesellschaftlich geächtet. An dieser Tradition wurde gut tausend Jahre lang festgehalten. Erst im Jahre 1910 wurde sie endgültig verboten.

Die Langhals-Frauen
Ursprünglich stammen sie aus Myanmar, heute sind sie eine fragwürdige Touristenattraktion im Norden Thailands: die sogenannten Longneck vom Stamm der Padaung, einer Untergruppierung des Karen-Volkes. Vor dem Bürgerkrieg flohen sie nach Thailand. Die «Langhals-Karen» pflegen einen besonders kuriosen Brauch: Schon den kleinen Mädchen werden Spiralen aus Messing um den Hals gewickelt, um dieses Körperteil künstlich zu strecken. Die Ringe werden aus einer langen, schweren Messingstange mit vielleicht einem halben Zentimeter Durchmesser kontinuierlich um den Hals gewunden.

Die Angehörigen der Kayan Lahwi sind weltweit als die „Langhalsfrauen“ . / Bild: © shutterstock.com

Als Fünfjährige fängt man damit an. Viermal im Leben werden die Ringe erneuert, danach legt man sie nie mehr ab. Von Jahr zu Jahr wird den Heranwachsenden eine längere Halsmanschette verpasst. Der Hals ist zuletzt nahezu unbeweglich. Ältere Frauen tragen bis zu 30 schwere Messingringe um den Hals, dabei bleibt dem Unterkiefer kaum Bewegungsspielraum. Viele Langhals-Frauen sehen die Ringe jedoch nicht als Tortur, sondern als stolze Errungenschaft. Denn je länger der Hals, desto schöner die Frau – im Selbstverständnis der Kavan. Die Messingringe können bis zu zehn Kilogramm wiegen. Das drückt im Laufe der Jahre die Schulterknochen und das ganze Gerippe nach unten. Dadurch wirkt der Hals der Frauen unendlich lang. Zahlreiche Frauen tragen nach Stammestradition auch an den Handgelenken und unterhalb des Knies Ringe. Sie waren einmal sehr stolz auf ihre Tradition. Doch inzwischen leben die Langhals-Frauen in einem «Menschenzoo», in dem Touristen gaffen und an dem Thailand gutes Geld verdient. Sie leben in einfachen Hütten ohne Strom und fliessendes Wasser, dies jedoch nicht aus freiem Willen, sondern, weil es die Touristenführer so wollen. Sie wollen die Frauen als primitives Volk darstellen. Nichts Modernes darf zu sehen sein, die Frauen müssen so leben, um den Touristen besser zu gefallen. Man munkelt gar, dass die thailändische Regierung ihnen Visa verweigert, um sie als Touristenattraktion zu behalten. Aus Protest haben einige Frauen sich inzwischen zu einem für sie drastischen Schritt durchgerungen: Sie nahmen ihre Ringe ab. Und legten somit eine Hunderte Jahre alte Tradition ab. Entgegen allen Horrorgeschichten knickt der Hals der Frauen, die die Ringe abnehmen, nicht um. Allerdings sieht man häufig Brandwunden am Hals, denn das Messing kann in der Sonne glühend heiss werden. Viele beringte Frauen schützen daher ihr Kinn mit einem Lappen vor dem Kontakt mit dem Metall, in vielen Fällen ein aufwendig mit Bändern verziertes Stück Stoff, das Teil der Tracht geworden ist.

Die Kayan Lahwi, die aus Burma nach Thailand geflohen sind, werden in Thailand als „Long Neck Karen“ o in Schaudörfern vermarktet. / Bild: © shutterstock.com

Lehmfarbene Haut und hängende Brüste
Auch sie waren einst ein wohlhabendes, stolzes Volk von Viehzüchtern, das halbnomadisch in seinem angestammten Gebiet Kaokoland im Norden Namibias lebt. Doch die Ankunft der modernen Zivilisation und Scharen von Touristen machen der Abgeschiedenheit der Himba ein Ende. Und damit auch ihrem traditionellen Lebenswandel. Nur wo die «Zivilisation» sie noch nicht erreicht hat, leben die Himba wie seit Jahrhunderten von Ziegen- und Rinderzucht. Mit ihren Herden ziehen sie zu Wasserstellen; zwischen diesen Wanderungen leben sie in Dörfern, die aus kegelförmigen Häusern bestehen. Grossen Wert legen die Himba auf Schönheit und Körperpflege. Männer wie Frauen reiben sich täglich mit einer Creme aus Fett, Kräutern und Ockerfarbe ein – eine Prozedur, die mitunter Stunden in Anspruch nehmen kann. Diese Creme schützt die Haut und verleiht den Himba die typische rote Hautfarbe. Was wir als schmutzig betrachten, ist bei ihnen Körperschutz und Schönheitsideal. Zur Schönheit gehört auch der Schmuck: Schon die Kleinsten bekommen ihn angelegt, wenn sie wenige Tage alt sind. Gefertigt werden die Stücke aus Leder, Metall, Perlen und Muscheln. Auch Hängebrüste sind bei Frauen nichts Verwerfliches, zeigen sie doch vielmehr, dass diese Frau gebärfreudig ist und wahrscheinlich schon viele Kinder gestillt hat. Auch wenn uns die Schönheitsideale vieler Völker ungewöhnlich oder gar grausam vorkommen mögen, sollten wir nicht vergessen, dass auch bei uns heute Frauen «gemacht» werden. Der natürliche Körper wird aufgeschnitten, umgeformt, Fett abgesaugt, immer auf der Suche nach dem noch perfekteren Äusseren. Wer dabei bestimmt, was das perfekte Äussere ist, sei dahingestellt.

Himbafrauen kommen bei der Hochzeit „unter die Haube“. In diesem Fall unter eine gerollte Lederkrone. / Bild: © shutterstock.com

«Das einfach Schöne soll der Kenner schätzen,
Verziertes aber spricht der Menge zu.»