Eine Wanderung auf dem Lares Trek: Die Lunge brennt, das Herz schreit, die Füsse brennen, der Kopf schmerzt und man fühlt sich so lebendig wie nie zuvor in seinem Leben.
Text: Franziska Köhl
Ich stehe im angenehmen Sonnenschein bei rund 20 Grad und perfektem Wanderwetter mitten in der rauen Landschaft der Anden, die mich stark an unsere Alpen erinnern, und doch ist hier alles völlig anders. Nicht zuletzt aufgrund der Lama- und Alpakaherden, die immer wieder meinen Weg kreuzen. Der Rest meiner Gruppe ist ein paar hundert Meter von mir entfernt nur noch als bunte Punkte erkennbar, die sich langsam, aber sicher wie eine kleine Raupe die Berge hinaufarbeiten.
«Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt»
Ich mache erst einmal einen Funktionscheck. Beine: völlig o.k., da geht noch was. Kopf: O.k., du bist jetzt dreieinhalb Stunden im Aufstieg unterwegs, befindest dich auf einer Höhe von knapp 4.000 Metern, hast noch knapp 800 Höhenmeter bis zum höchsten Punkt, dem Pumawanka-Pass, vor dir. Es wird irgendwie gehen, du bist schon ganz andere Trails gelaufen! Herz: pump, pump, pump, ist das anstrengend. Aber ein bisschen geht noch. Lungen: Hilfe!
Peru ist ein Paradies für Bergsteiger. Alleine über 50 Sechstausender findet man im peruanischen Teil der Anden, die sich über eine Länge von 8.000 Kilometern durch das westliche Südamerika ziehen. Im Reich der Inka gibt es Trekkingtouren für die unterschiedlichsten Level, der wohl berühmteste Trek ist der Inka Trail. Der Lares Trek, auf dem ich mich gerade befinde, gilt als Geheimtipp und als tolle Alternative zum völlig überlaufenen Inka Trail. Wer Einsamkeit bevorzugt, ist hier genau richtig. In 1½ Tagen Trekking sind wir noch keiner anderen Gruppe begegnet. Die Landschaft ist spektakulär und die Einheimischen – vor allem die Kinder – begrüssen einen freudig, wenn man durch ihre Dörfer kommt. Unsere zehnköpfige Gruppe ist international: Mexikaner, Amerikaner, Kanadier, ein Schwede und meine Wenigkeit, im Alter von 20 bis Ende 40. Begleitet von acht weiteren Personen: zwei Guides, zwei Köchen, drei Muli-Treibern und einem Assistenten. Zehn Mulis, sechs Zelte und ein «once in a lifetime»-Abenteuer in drei Tagen.
«Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe»
Der Lares Trek hat eine Länge von 33 Kilometern, die in drei Etappen auf drei Tage aufgeteilt sind. Die mittelschwere Wanderung ist technisch nicht besonders anspruchsvoll, es gibt keine Kletterstellen oder direkte Absturzgefahr. Aber die Höhenkrankheit hat es in sich – und keiner kann vorhersagen, wann und ob es jemanden trifft, denn sie hat nichts mit der körperlichen Fitness oder dem allgemeinen Gesundheitszustand zu tun hat. Das Einzige, was hier hilft: viel trinken, Schmerztabletten bei Kopfschmerzen, Kokablätter-Dauerkauen und ein möglichst schneller Abstieg, wenn es einen tatsächlich erwischt hat.
Ich kämpfe mich also weiter, einen Schritt vor den anderen, bis plötzlich ein Traben von hinten zu hören ist. Unsere starken Mulis, die Teile des Gepäcks wie die Zelte und Schlafsäcke tragen, kommen mühelos mit ihren menschlichen Begleitern, die Sandalen tragen, den Berg hinaufgesprungen, als wäre dies das Natürlichste und Einfachste der Welt. Was es für sie ja auch irgendwie ist. Kaum sind sie ausser Sicht- und Hörweite, bin ich wieder mit mir und meinen Gedanken alleine und versuche, mich auf die Landschaft zu konzentrieren. Zur Rechten taucht ein Flusslauf auf, die herumliegenden Steine sind bemoost und schimmern in allen erdenklichen Grüntönen, und im Hintergrund glänzen die weissen Gletscher der umliegenden Berge im Sonnenlicht. Der Fluss führt mich zu einem kleinen Bergsee mit klarem Wasser, an dem ich auch wieder auf meine inzwischen ausgeruhte Gruppe treffe. Nach einer kurzen Rast geht es weiter, und der landschaftlich schönste Teil der Wanderung beginnt: Es tauchen immer mehr Seen auf, zwischen denen sich der schmale Wanderpfad hindurchschlängelt.
«Zu unserer Natur gehört die Bewegung, die vollkommene Ruhe ist der Tod»
Nach kurzer Zeit falle ich wieder zurück und bin für mich alleine. Und das, obwohl Paolo, unser erster Guide, inzwischen mein Gepäck übernommen hat. Auch ihm scheint die Höhe nichts auszumachen. Auf die Frage, weshalb sich Menschen so etwas antun, meint er nur verschmitzt grinsend: «Naja, durch den Schmerz spürt man das Leben wieder.» Wie recht er doch hat! Beine: immer noch völlig o.k. Die neuen Wanderschuhe sind wirklich super! Kopf: Eigentlich mag ich nicht mehr. Aber ich bin jetzt an einem Punkt, an dem der Abstieg viel weiter ist als der Aufstieg. Dich wird hier keiner retten, es gibt keinen Helikopter wie in den Alpen. Die Stelle ist zu steil, als dass du auf einen Ritt auf einem Muli hoffen könntest. Also Zähne zusammenbeissen und weiter! Das haben auch schon andere vor dir geschafft. Herz: Hilfe! Lungen: Boah, gibt’s hier irgendwo Sauerstoff? Ich kann so nicht arbeiten!
Und so ziehen sich die letzten Meter wie Kaugummi. Ich mache drei, vier, fünf Schritte und muss wieder anhalten, denn mir fehlt einfach die Luft. Dazu ist mir schwindelig, schlecht und mein Kopf explodiert fast vor Schmerzen. Aber das Schlimmste ist, dass ich, obwohl ich atme wie eine Dampflokomotive, das Gefühl habe, keinen Sauerstoff in die Lungen zu bekommen. Denken ist schon lange nicht mehr möglich, aber irgendwie kommen mir zwei doch passend unpassende Songs in den Kopf, und so schiebe ich mich zum Rhythmus von «Stayin‘ Alive» der Bee Gees und Helene Fischers «Atemlos durch die Nacht» die letzten Meter bis zum Ziel der Wanderung.
«Wer ans Ziel kommen will, kann mit der Postkutsche fahren, aber wer richtig reisen will, soll zu Fuß gehen»
Als ich ankomme, bin ich zu erschöpft, um die Aussicht gross zu geniessen. Alle werden herzlich umarmt, wir beglückwünschen uns, dass wir es geschafft haben, schiessen ein Erinnerungsfoto – und beginnen mit dem Abstieg. Zwei weitere Stunden, bis das Mittagessen auf uns wartet. Unsere Köche haben bereits alles vorbereitet – es gibt wie immer ein Drei-Gänge-Menü, bestehend aus Suppe, verschiedenen peruanischen Köstlichkeiten und einem süssen Nachtisch, und ich frage mich zum wiederholten Mal, wie man auf so engem Raum, mit solch beschränkten Mitteln auf einem Campingkocher solch fantastische Speisen zaubern kann, die ich wahrscheinlich noch nicht einmal in meiner komplett ausgestatteten Küche hinbekommen würde.
Zu trinken gibt es den berühmten Koka-Tee, also heisses Wasser mit Kokablättern, die laut den Einheimischen gegen die Höhenkrankheit helfen sollen. Ob sie das tun, weiss ich nicht, aber ich probiere es lieber nicht ohne aus, hat es mich doch ziemlich heftig erwischt. Mit jedem Höhenmeter im Abstieg wird das Atmen wieder leichter und die Schmerzen im Kopf erträglicher. Unser Nachtlager scheint schon in greifbarer Nähe, doch wie es in Äquatornähe so üblich ist, wird es plötzlich stockdunkel! Mehr stolpernd als laufend finden wir unseren Weg, und es tut an diesem Abend extrem gut, die Schuhe auszuziehen. Der Sternenhimmel scheint nur für uns zu leuchten, und die Erleichterung, es geschafft zu haben, lässt die Strapazen fast vergessen. Wie bereits in der letzten Nacht kuschle ich mich mit zwei Hosen, drei Pullovern und einer Wollmütze auf dem Kopf in meine drei Schlafsäcke, denn ohne Sonne fallen die Temperaturen hier schnell unter die Null-Grad-Marke, und es wird bitterkalt. Kurz vor dem Einschlafen noch ein Funktionscheck – Beine: endlich Ruhe. Kopf: Warum tust du dir so was immer wieder an? Aber grenzgenial war es irgendwie doch! Herz: geht wieder. Lungen: alles wieder o.k. bei uns. Aber mach so was bloss nie wieder!
«Wanderer kann man nicht werden, man wird als Wanderer geboren»
Der restliche Teil der Wanderung am nächsten Morgen gleicht einem Sonntagsspaziergang. Das erste Bier schmeckt göttlich, und wir stossen auf unseren Erfolg an. Das Erlebnis in der Gruppe hat uns getragen, jeder achtete ein bisschen mehr auf den anderen, und «We can do it!» war unser Schlachtruf während der ganzen Quälerei. Die Verabschiedung von der Crew, die uns die letzten drei Tage begleitet hat, fühlt sich an, als wäre unsere Reise schon vorbei. Obwohl uns das eigentliche Highlight, der Machu Picchu, noch bevorsteht, haben wir unseren persönlichen Höhepunkt der Reise bereits erlebt. Würde ich es wieder tun? Beine: klar, wieso nicht. Kopf: So schlimm war es ja jetzt gar nicht, also klar. Mit genügend Schmerztabletten geht das. Herz: Hey, ich habe mich endlich wieder selbst gespürt. Nur zu. Lungen: Komm ja nicht auf die Idee ..!