Hunderte Männer mit Rauschebärten, ein halber Ort auf der Theaterbühne. Alle zehn Jahre ist Oberammergau im Ausnahmezustand.
Text: Yvonne Beck
Vom 16. Mai bis 4. Oktober 2020 finden bereits die 42. Oberammergauer Passionsspiele statt. Christan Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters, führt schon zum vierten Mal Regie. Wir trafen den Spielleiter der Passionsspiele und sprachen mit ihm über haarige Zeiten, die Pflicht der Nächstenliebe und starre Traditionen.

Herr Stückl, können Sie mir kurz etwas zur Geschichte der Passionsspiele in Oberammergau erzählen?
Vor fast 400 Jahren begann die Geschichte der Passionsspiele in Oberammergau. Die Pest wütete in vielen Teilen Europas und machte auch vor Oberammergau nicht halt. Um dem Elend ein Ende zu setzen, beschlossen die Oberammergauer, ein Gelübde abzulegen. 1633 schworen sie, alle zehn Jahre das Leiden und Sterben Christi aufzuführen, sofern niemand mehr an der Pest stirbt. Das Dorf wurde erhört und so spielten die Oberammergauer 1634 das erste Passionsspiel. Das Geloben von Passionsspielen war ein erprobtes Mittel. Insgesamt gab es in Bayern 450 Passionsspielorte. Die Oberammergauer haben jedoch ihr Versprechen bis heute gehalten. In relativ kurzer Zeit wurde Oberammergau zur Mutter der Passionsspiele. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts kamen Zuschauer aus allen Teilen Deutschlands angereist, und im Jahr 2020 finden nunmehr die bereits 42. Oberammergauer Passionsspiele statt.
Wie sind Sie zu den Passionsspielen gekommen?
Ich stamme aus Oberammergau und einem Oberammergauer werden die Spiele in die Wiege gelegt. In unserer Familie reicht die Tradition bis 1634 zurück. Auch mein Urgrossvater, Grossvater und Vater haben bereits Passion gespielt. Sie waren auf die Rolle des Hohen Priesters Kaiphas gebucht. Als Kind dachte ich daher automatisch, dass auch ich einmal den Kaiphas spielen würde. Im Alter von sieben Jahren war ich erstmals beim Volk von Jerusalem auf der Bühne. Bereits als kleiner Bub liebte ich die Atmosphäre des Passionsspiels. Jede freie Minute verbrachte ich in den Kulissen und bei den Proben. Mit zirka 13 Jahren stellte ich jedoch fest, dass mich die Arbeit vor der Bühne viel mehr interessiert als das Agieren auf der Bühne. Und als ich 24 Jahre alt war, habe ich dann den Mut gehabt zu sagen: «Ich werde jetzt Spielleiter.» Natürlich gab es einen riesengrossen Aufschrei, vor allem bei den Konservativen. Ich bin in einem Wirtshaus aufgewachsen. Bei uns am Stammtisch wurde das Passionsspiel ständig diskutiert. Und in den 70er-/80er-Jahren gab es in Oberammergau eine heftige Auseinandersetzung über die Ausrichtung der Passionsspiele. Bereits seit den 60er-Jahren wurden wir von jüdischen Organisationen stark kritisiert, dass die Spiele antisemitische Züge hätten. Oberammergau hat aber jegliche Reform abgelehnt. Es wurden keinerlei Kostüme, Bühnenbild oder Textstellen verändert. Man bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Das führte schliesslich zu einem Streit zwischen Bewahrern und Reformern. Der Streit im Dorf wurde so gross, dass eine ganze Generation quasi den Spielen den Rücken kehrte. Dadurch habe ich heute noch die Problematik, dass ich kaum Schauspieler zwischen 55 und 75 Jahren besetzen kann.
Es geht also nicht immer ganz friedlich zu in Oberammergau …
Wir sind ein Dorf der Streiter! Und ich nehme mich da auch gar nicht aus. Ich wurde mit 9:8 Stimmen zum Spielleiter gewählt, und dieses Ergebnis spiegelte die Stimmung im Dorf wider. Der Pfarrer hat ein Flugbatt gegen mich verfasst mit dem Wortlaut: «Eine gotteslästerliche Jugend bemächtigt sich der Bühne. Oberammergauer, verhindert dieses!» Aber wie Sie sehen, bin ich immer noch da.
Sie stehen also für Erneuerung. Wie wichtig sind Ihnen jedoch alte Traditionen?
Sehr wichtig. Ich liebe Traditionen, aber nur so lange sie Sinn machen. Das Passionsspiel hat sich in der Vergangenheit stetig neu erfunden, aber mit dem Einsetzen des Tourismus kam es zu einer Stagnation. Sobald die Passionsspiele zum Wirtschaftsfaktor wurden, traute man sich nicht mehr, etwas zu verändern. Dabei schrieb Lion Feuchtwanger bereits 1910: «Es herrscht eine traurige Inzucht in diesem Dorf – nichts bewegt sich!» Nach dem Zweiten Weltkrieg unterschrieben dann Künstler wie Leonard Bernstein, Günter Grass und Böll eine Petition, dass man das Spiel dringend überarbeiten müsste. Die Passionsspiele müssten endgültig vom Antisemitismus befreit werden. Die Oberammergauer stellten jedoch auf stur. Doch dann kam irgendwann der Stückl.
Und der machte was genau?
Ich habe sehr, sehr viel am Text gearbeitet, sodass das Textbuch nun frei von antijüdischen Ressentiments ist. Aber der Antisemitismus steckte ja sogar in den Kostümen: Judas war vorher immer gelb gekleidet. Gelb ist die Farbe, mit der man Juden seit Jahrhunderten stigmatisiert hat – Judas war also immer der böse Jude, der Verräter. All das habe ich komplett verbannt. Die Passionsspiele sind nicht die Geschichte von Juden gegen Christen. Jesus war ein Jude und ist als Jude gestorben. Bei mir spricht Jesus beim Abendmahl Hebräisch, und auf dem Tisch steht der siebenarmige Leuchter, um seinen Background hervorzuheben. Noch wichtiger war es für mich jedoch herauszuarbeiten, was für ein unfassbar konsequenter Mensch er war. Ich habe aber auch die Figur des Judas und des Pilatus bearbeitet. Der eine ist jetzt nicht mehr nur der geldgierige Verräter und der andere nicht mehr das händewaschende Unschuldslamm.
Welche Zeitspanne vom Leben Jesu wird gezeigt?
Die fünfstündige Aufführung beginnt nachmittags mit dem Einzug in Jerusalem und erzählt die Passionsgeschichte über das Abendmahl bis hin zur Kreuzigung. Sie endet in den Abendstunden mit der Auferstehung.
Wird es 2020 Änderungen geben?
Ja, ich arbeite ständig an dem Stück und der Inszenierung. Da die Passionsspiele nur alle zehn Jahre stattfinden, muss ich den Text immer anpassen, die Geschichte neu erzählen. Es fliessen Erkenntnisse ein, die ich beim letzten Spiel gewonnen habe, und es muss auch die jeweilige Zeit und die politischen Umstände widerspiegeln.
Jesus fordert Nächstenliebe. Oder wie Sie einmal gesagt haben, er fordert «Radikales Umdenken! Es ist die Aufforderung, Hass und Gegenhass, Gewalt und Gegengewalt zu beenden.» Mir schiessen dabei sofort ganz aktuelle Bilder in den Kopf …
In Zeiten des wachsenden Fremdenhasses ist diese Thematik sehr aktuell. Ja, es geht auch um die Flüchtlingsproblematik und die Gewalt gegen Minderheiten. Sonntags in die Kirche rennen, aber montags Hass gegen Fremde schüren ist für mich reine Bigotterie. In den Passionsspielen geht es um die Botschaft Jesu und diese handelt von Nächstenliebe. Daher lauten für mich die Leitmotive der Passionsspiele «Umdenken und Nächstenliebe!»
Sind Sie selbst ein gläubiger Mensch?
Ja, ich bezeichne mich sogar ausdrücklich als Katholiken. Das heisst aber nicht, dass ich ein Fan der heutigen katholischen Kirche bin. Meine religiöse Sozialisation kann ich jedoch nicht verleugnen, auch wenn es in der katholischen Kirche mehr als dringend gravierende Veränderungen geben muss. Aber der Glaube und die Institution sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.
Wie viele Personen wirken mit? Und wer darf überhaupt mitwirken? Insgesamt haben wir über 2.500 Mitwirkende. Mitmachen darf nur, wer in Oberammergau geboren und aufgewachsen ist oder seit mindestens 20 Jahren im Dorf wohnt. Neben den grossen Figuren Jesus, Maria, Petrus, Judas, Pontius Pilatus und Kaiphas gibt es 120 grössere und kleinere Sprechrollen, dazu Soldaten, Priester und das Volk von Jerusalem.
Warum haben Sie versucht, die eben genannten 20 Jahre zu verkürzen?
Die 20-Jahre-Regelung gibt es erst seit 1960. Zuvor waren es zehn bzw. 15 Jahre. Der Grund damals war der Ausschluss von Flüchtlingen und Fremden. Wenn jemand nach Oberammergau zieht und irgendwann mitspielen will, sind 20 Jahre jedoch eine brutal lange Zeit. Davon abzurücken, wäre eine schöne Geste und ein Signal nach aussen gewesen. Ich denke, wir sollten Menschen allgemein schneller integrieren.
Mit welchem Argument hat man Ihren Vorschlag ausgebremst?
20 Jahre seien eine Form von gelebter Tradition, die man bewahren müsse. Wo wir wieder beim Thema sind: Tradition gilt es ab und an mal zu entstauben. Nämlich dann, wenn sie nicht mehr zeitgemäss ist.
Und wie stehen Sie zur Tradition des «Barterlasses», und was genau hat es damit auf sich?
Jeweils am Aschermittwoch im Jahr vor den Spielen findet bei uns der sogenannte «Barterlass» statt: Bis zu den Passionsspielen lassen sich alle Mitwirkenden die Haare und die Männer auch die Bärte wachsen. Ich liebe diese Tradition, sie macht Oberammergau zum Dorf der langhaarigen, bärtigen Männer. Man sieht sofort, wer mitspielt und wer nicht. Manche Familien sehen aus wie die Kelly-Familie zu ihren besten Zeiten.
Sind Sie für die Besetzung aller Rollen zuständig?
Ja, und ich denke lange Zeit an nichts anderes. Jesus oder Judas, Römer oder Judäer – das sind die Fragen, die die Herzen der Oberammergauer alle zehn Jahre bewegen. Es ist keine leichte Angelegenheit, jeden unterzubringen. Aber bis jetzt habe ich es immer geschafft, und dieses Jahr spielt sogar der erste Muslime in der Geschichte der Oberammergauer Passionsspiele eine der Hauptrollen. Nachdem der zweite Spielleiter bereits Muslime ist, wurde es Zeit, auch einen auf die Bühne zu holen.
Was sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine Hauptrolle?
Teamfähig, tragfähige Stimme und eine gute Ausstrahlung. Zudem ist das Interesse an einer der grössten Geschichten der Menschheit durchaus erwünscht – dafür muss man jedoch nicht unbedingt religiös oder gar Kirchgänger sein.
Gibt es Nachwuchssorgen?
Allein 450 Kinder werden in diesem Jahr teilnehmen. Ich denke, das beantwortet die Frage. Viele junge Menschen unterbrechen für die Zeit der Passionsspiele sogar ihr Studium. Die Passionsspiele sind eine Art Taktgeber für das Leben in Oberammergau. Bei uns wird in Dekaden gedacht. Das macht sich selbst bei den Sterberaten bemerkbar. Im Jahr der Passionsspiele sterben deutlich weniger Menschen, jeder will sie miterleben bzw. mitbestreiten.