Immer mehr Bergdörfer sterben. Während in den Fremdenverkehrsfabriken der Tourismus bald wieder auf Hochtouren läuft, meiden Besucher die abgelegenen Regionen der Bergwelt.

Text: Yvonne Beck

Das typische an der Schweiz: Die kleinen, heimeligen Bergdörfer mit engen Gassen, plätschernden Brunnen, verstreuten Häusern in steilen Berglandschaften, gesäumt von Almwiesen, Kuh- und Ziegenställen – ganz a la Johanna Spyri. In den Bergen ist die Schweiz so schweizerisch wie sonst nirgendwo. Doch das romantische Bild trügt. Bergdörfer sind vom Aussterben bedroht und gehören längst auf die rote Liste gefährdeter Existenzen. Nur wenig Einheimische harren noch in den kleinen Dörfern aus. In vielen Ortschaften stehen Häuser leer, sind Schulen geschlossen und wurden Geschäfte aufgegeben. Ein morbider Charme weht durch die Strassen und viele Orte mit einer einst lebendigen Dorfgemeinschaft drohen in Vergessenheit zu geraten. Sie fallen in einen Dornröschenschlaf und warten auf den Prinzen, der sie wieder wachküsst.

Bergdorf
Bergdorfidylle

Sterben der Alpendörfer
Die Bevölkerung im europäischen Alpenraum nimmt seit 1970 zwar gesamthaft wieder zu, jedoch konzentriert sich das Wachstum auf tiefer gelegene und verkehrstechnisch gut erschlossene Gemeinden. Hoch oben im eigentlichen Gebirgsraum kommt es hingegen zu einer zunehmenden Entvölkerung. Hauptgrund: fehlende Arbeitsplätze. Die Jugendlichen ziehen weg und übrig bleiben häufig nur die Alten. Vielfach wurde in den Bergdörfern versäumt zu investieren. Man glaubte, die goldenen Zeiten in denen es die Menschen Scharenweise zur Sommerfrische in die Alpendörfer zog, würden einfach so weitergehen. Doch heute verirren sich nur noch wenige Touristen in die teils schwer zu erreichenden Höhenorte. Die meisten Gäste bevorzugen die gut erschlossenen Ferienhochburgen wie Flims, Laax oder Sion. Um die kleinen Dörfer macht der Besucherstrom meist einen Bogen. Tourismus spielt in den entlegenen Tälern also nur noch eine untergeordnete Rolle. Davos, St. Moritz, Crans Montana, Zermatt oder Verbier haben Alpenarenen mit kilometerlangen Pisten, Skizirkus, Champagnerklima und Aprés-Ski mit denen sie punkten können. Die abgelegen Bergdörfer sind jedoch auf sich selbst gestellt.

Chandolin
Chandolin das höchstgelegendste Bergdorf der Schweiz / Bild: shutterstock

Das höchstgelegenste Bergdorf des Wallis
Viele der in ihrer Existenz bedrohten Alpendörfer werden nicht überleben. Doch einige werden es und zwar durch die Besinnung auf eigene, regionale Stärken anstatt globalen Trends hinterher zu laufen. Auch um den kleine Ort Chandolin war es lange Zeit nicht zum Besten gestellt. Früher eine Inspirationsquelle für Dichter, Zwischenstation für Reisende und Zufluchtsort hoher Persönlichkeiten drohte auch eines der höchstgelegenen, bewohnten Dörfer Europas in Vergessenheit zu geraten. Das lange Zeit bei berühmten Gästen sehr geschätzte Chandolin wurde unter anderem von Persönlichkeiten wie Ella Maillart, René-Pierre, Edmond und Corinna Bille, Konrad Adenauer, Ferdinand von Zeppelin oder auch Edouard Ravel besucht. Die prächtigen Holzhäuser, traditionelle Walliser Strickbauten, erinnern noch heute an den Glanz dieser Zeiten. Mit seiner sehr sonnigen Lage profilierte sich dieser hoch am Berg gelegene Ferienort als Reiseziel voller Charme besonders für Besucher, die Ruhe am Rande von Arven- und Lärchenwäldern suchten. Doch in den letzten Jahren fehlte es an einer adäquaten Unterkunft für Gäste und auch für die 120 ganzjährigen Bewohner gab es kaum Abwechslung.

Spiegelbild der Seele einer Region
Seit Frühling 2017 belebt nun das neue Chandolin Boutique Hotel mit authentischem, nachhaltigem Design und seiner eigenen Milchkuh den Tourismus im Ort. Fernab der grossen Skiorte, dafür aber den Sternen zum Greifen nah, verleiht es dem Ort eine neue Dynamik. In dem vollständig renovierten, typischen Chalet tragen Architektur und alpine Inneneinrichtung unter Verwendung natürlicher Materialien wie Naturstein und unbehandeltes Holz zu einer gemütlichen und zugleich modernen Atmosphäre bei. Mit der Entscheidung, dem lange im Dornröschenschlaf gelegenen Hotel neues Leben einzuhauchen, wollte der Besitzer Esteban Gracia ein visionäres Projekt und ein verantwortungsvolles Vorhaben mit belebender Wirkung für die gesamte Region realisieren. Dieses ist ihm Dank Rückbesinnung auf heimische Werte bestens gelungen.

Chandolin Boutique Hotel
Chandolin Boutique Hotel

Das Hotel unterstützt lokale Produzenten und knüpft nach den Grundsätzen des „Shared Value“ regionale Partnerschaften. Und so bietet auch die Menükarte des Küchenchefs Stéphane Coco einen gelungenen Mix aus traditioneller und internationaler Küche. Das Ganze zu recht moderaten Preisen, denn Philosophie des Hauses ist es sowohl Hotelgäste als auch Einheimische willkommen zu heissen. Das „Le Restaurant“ wartet zum Mittag- und Abendessen mit einer unterschiedlichen Menüauswahl an lokalen Produkten wie Fleisch der Eringer Kuh oder Alpkäse aus dem Val d’Anniviers auf. Nicht weit vom Hotel entfernt, in einer Scheune, lässt es sich Titeuf – die zum Hotel gehörende Kuh – gutgehen. Ihre Milch wird für die Herstellung eines erstklassigen Alpkäses verwendet. Die letzten Sonnenstrahlen geniesst man am besten an der Bar des Aprés-Ski Chalet „Sunset“ vor dem Hotel bei traditionellen Gerichten wie Käsefondue oder einem Raclette. Das übergeordnete Ziel, den regionalen Tourismus zu beleben, ist dem Hoteleigentümer mit seinem kleinen Juwel also gelungen. Er und der kleine Ort Chandolin haben begriffen: Die gesamte alpine Fremdenverkehrsbranche muss dringend umsteuern, um das Überleben der Bergdörfer zu sichern. Es muss Abschied genommen werden von Megatrends, die meist mit einhergehender Naturzerstörung verbunden sind. Stattdessen sollte eine Rückbesinnung auf die eigenen Werte stattfinden. Man geht davon aus, dass in naher Zukunft im Sommer die sogenannten «Mittelmeerflüchtlinge» kommen werden. Menschen, die die Kühle in den Alpen vorziehen, die Sommerfrische, wie das früher hieß. Und dann werden gerade Orte wie Chandolin, Orte in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, wieder ganz vorne mitspielen.

«Ja, es gibt diese Welt da unten, vielschichtig und kompliziert.
Ich jedoch habe mich für die höher gelegene Welt entschieden, dort,
wo man nie genug von den einfachen Freuden bekommt,
da sie immer wieder neu und unaufhörlich fliessen wie der Saft des Baumes.»
(Ella Maillart)

 

Ella Maillard
Ella Maillart auf einer ihrer vielen Reisen, bevor sie sich in Chandolin niederliess.

 

«Vom letzten bis zum ersten Schnee»
Die 1903 in Genf geborene Ella Maillart führte ein Leben im Eiltempo. Mit ihrer sportlichen, forschenden und abenteuerlustigen Art hat sie sich als Fotografin, Journalistin und Schriftstellerin verwirklicht. Aus ihren verschiedenen Reisen durch die ganze Welt schöpfte sie die Inspiration, um ihre Romane zu schreiben. 1946 zog sie nach Chandolin und liess dort ihr Chalet „Atchala“ erbauen. Hier verbrachte sie bis zu ihrem Lebensende 1997 jedes Jahr sechs Monate – vom letzten bis zum ersten Schnee. Sie gilt als eine der grössten Reisenden des 20. Jahrhunderts. Der

«Espace Ella Maillart», eine Dauerausstellung in der ehemaligen Kapelle Sainte-Barbe in Chandolin, schildert das Werk dieser aussergewöhnlichen Frau. Mit Fotografien und Zeichnungen, Artikeln und Plakaten sowie verschiedenen privaten Gegenständen wie ein Überseekoffer, ein orientalischer Mantel und eine alte Reiseschreibmaschine taucht man in das abenteuerliche Leben der Weltenbummlerin ein. Der Espace Ella Maillart ist von Mittwoch bis Sonntag von 10 Uhr 30 bis 17 Uhr geöffnet (www.ellamaillart.ch).