Passagier: Yvonne Beck
Dauer: 55 Minuten oder 116 Tage
Strecke: Zürich bis Basel
Einfach sitzen bleiben und dieses Mal nicht in Basel aussteigen – so oft schoss ihr dieser Gedanken schon durch den Kopf. Weiterfahren bis nach Paris und auf der Champs-Elysées zum Croissant einen Café au Lait trinken.
Doch jedes Mal schon lange bevor sie die Graffitis an der Bahnhofsmauer sah, stand sie an der Ausstiegstür des Zuges. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Und jeden Morgen fragte sie sich aufs Neue, warum sie sich das antat: Von Tür zu Tür brauchte sie 1,5 Stunden. Morgens hin, abends wieder zurück. Das ergaben drei Stunden reine Fahrzeit pro Tag. 15 Stunden pro Arbeitswoche. Summa summarum machte das circa 705 Stunden im Jahr. Nach vier Jahren, die sie bereits in dem Unternehmen arbeitete, kam sie also auf etwa 2800 Stunden. Das machte 116 Tage.
116 Tage, die sie im Zug verbracht hatte. In einem Zug mit fremden Menschen. Menschen, die sowohl im Sommer als auch Winter müffelten. Sie müffelten nach ungelüfteten Wohnungen, abgestandenem Rauch oder Schweiss. Manchmal so penetrant, dass sie sich ihren Schal heimlich über die Nase ziehen musste, damit ihr nicht übel wurde. Wahrscheinlich waren es sogar noch mehr Tage, wenn sie die ganzen Umleitungen und Zugausfälle mit einberechnete. Vor allem im Herbst und Winter kam es häufig wegen abgerissener Oberleitungen oder Personenschäden zu Verspätungen. Manchmal hatte sie das Gefühl sie sei auf Personenschäden abonniert oder diese seien in ihrem Generalabonnement mit inbegriffen. Vielleicht hatte sie das Kleingedruckte überlesen: In ihrem Bahn-Abo sind pro Jahr vier bis fünf Personenschäden inkludiert. Warum mussten sich Menschen immer vor ihren Zug werfen? Sie wollte doch nur nach Hause. Ihr kam es ein wenig unsensibel vor. Wo sie doch auch so schon viel zu viel Zeit im Zug verbrachte.
116 Tage! Was hätte sie alles in dieser Zeit tun können?