Wie Kunst eine Stadt rettet 

Philly: von apokalyptischer Stadtlandschaft zum Hippster-Geheimtipp
Erschrocken bleibt Francis vor einem Bauzaun stehen. «Oh nein, dieses Mural haben wir wohl verloren, dabei haben wir es vor gar nicht allzu langer Zeit restaurieren lassen.» Francis ist eine der vielen Freiwilligen, die sich ehrenamtlich bei Mural Arts Philadelphia (MAP) engagieren. Sie hilft, Sponsoren aufzutreiben, Spenden zu sammeln oder führt interessierte Besucher durch Philadelphia und zeigt ihnen dabei die schönsten Murals der Stadt. Francis sieht eigentlich gar nicht aus wie jemand, der sich für Street Art interessiert, eher wie jemand, die gerne mal in die Oper oder ins Museum geht, doch mit viel Leidenschaft zeigt sie uns einige der schönsten Wandgemälde.

Text: Yvonne Beck

Die Mural Arts Philadelphia ist eins der erfolgreichsten Kunstprogramme der Vereinigten Staaten. 1984 wurde es von der Künstlerin Jane Golden mit dem Ziel gestartet, Strassenkünstlern, die mit ihrer Graffiti ganze Strassenzüge verschandelten, eine Kunstausbildung zu bieten und ihnen legale Flächen für ihre Bilder anzubieten. Gerade Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen sollte so die Möglichkeit geboten werden, ihre Gefühle, Ängste und Sorgen auszudrücken. Künstler und Pädagogen gingen in sozial schwache Viertel und nahmen sich jugendlicher Sprayer an, liessen sie von renommierten Malern unterrichten und nahmen sie mit ins Museum. Entstanden sind daraus über 3700 Murals. Sie wurden zum Schutzschild gegen Vandalismus, indem die Motive stets zusammen mit den Menschen aus der Nachbarschaft erarbeitet werden. Dadurch identifizierten sich mehr und mehr Menschen mit den Murals, mit ihrer Stadt. Sie fingen an, ihre Stadt zu schätzen, und statt sie weiterhin zu zerstören und zu beschmieren, stolz auf sie zu sein. Die Bewohner übernahmen für ihre Nachbarschaft plötzlich Verantwortung und respektieren sie nun. Die MAP funktioniert also wie eine gesellschaftliche Kunsttherapie. Keiner hätte mit solch einem Erfolg gerechnet. Die Kunst machte aus der einst grauen und heruntergekommenen Stadt eine bunte, lebensfrohe und lebenswerte Stadt. Philly hat die Tristesse der 1980er-Jahre hinter sich gelassen. Heute zieren berühmteste Namen die Wände der Stadt: Shepard Fairey, bekannt durch sein Plakat zum Wahlkampf Barack Obamas mit der Aufschrift «Hope», die niederländischen Künstler Jeroen Koolhaas und Dre Urhan («Haas & Hahn» genannt) sowie Keith Haring.

Mural Arts Program / Bild: Bryan Lathrop
Mural Arts Program / Bild: Bryan Lathrop

Viele der Murals erzählen die Geschichte der Viertel, sie erzählen von Einwanderern, den berühmten Söhnen der Stadt, Rassenkämpfen, dem Kampf um Gleichberechtigung. Durch sie ist Philadelphia zu einem riesigen Freilichtmuseum geworden. Wie in einem überdimensionalen Reiseführer erfährt man durch sie mehr über die einzelnen Viertel. Die Anfertigung eines Murals dauert zwei bis drei Monate. Die meisten Murals entstehen im Atelier. Jedes Bild ist ein grosses Malen nach Zahlen. Beauftragt wird es bei Künstlern, aber gestaltet wird gemeinsam. Stück für Stück wird der spezielle, fertig bemalte Untergrund am Ende auf der Mauer aufgebracht. Im Schnitt kommt das Kunstwerk auf 20.000 Dollar. Für Meg Saligman’s «Common Thread» wurden sogar 40.000 Dollar ausgegeben. Ein ordentliches Sümmchen, das man ohne Spenden und offizielle Gelder aus dem Stadthaushalt nicht aufbringen könnte. Hinzu kommen die jährlichen Restaurierungskosten für ältere Murals. Trotzdem kann man nicht alle Murals retten, viele entstehen an Privatgebäuden oder an Baulücken. Sollte der Besitzer sich entscheiden, das Grundstück zu verkaufen oder ein weiteres Gebäude zu bauen, ist das Mural verloren und mit ihm ein weiteres kleines Stück Geschichte. Und so geht der Kampf weiter, zum einen um die bereits bestehenden Murals zu erhalten, zum andern gibt es noch einige verarmte Viertel, die den Farbsegen der Murals nur allzu gut gebrauchen könnten.

Murals erzählen die Geschichte der Viertel

Philly hat es geschafft – dank Kunst, einer Kunst, die für Menschen von Menschen gemacht ist –, aus tristen Wohnböcken, kriminellen Drogenvierteln lebendige, urbane, coole Viertel mit hippen Cafés und kleinen Shops zu schaffen. Viele Kreative haben sich in der ehemals maroden Innenstadt niedergelassen und geben ihr eine lässige Urbanität, die sie so liebenswert macht.

Hin & weg
Erkunden lassen sich die Murals auf geführten zweistündigen Touren, die meist einen Themenschwerpunkt haben oder sich auf ein Viertel beschränken, oder in Eigenregie. Einige Highlights sind bequem zu Fuss erreichbar. Allein in der Innenstadt zwischen dem Schuykill und dem Delaware River kann man nicht weniger als 20 haushohe Murals bewundern. Auf der Website des MAOP gibt es eine Karte mit Tourenvorschlägen zum Herunterladen. www.muralarts.org