Stuttgart ist mit Mercedes und Porsche die Autostadt Deutschlands. Hier isst man Maultaschen oder Linsen mit Spätzle, singt mit Äffle und Pferdle den Hafer- und Bananenblues und zelebriert die Kehrwoche. Ja, so ist Stuttgart, aber eben nicht nur …

Stuttgart ist das Stiefkind unter den deutschen Städtezielen. Die Stadt gilt als provinziell, geprägt von der typisch schwäbischen «Schaffe, schaffe, Häusle baue»-Mentalität, und bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch, Stuttgart will gar nicht so cool sein wie andere grosse Städte. Man liebt es unaufgeregt und gemütlich. Doch wer mit offenen Augen durch die Stadt flaniert, findet einige sehr spannende Ecken in der Rösslestadt.

Der weisse Literarturtempel
Der erste echte Wow-Moment, den wir in Stuttgart erleben, ist beim Betreten der neuen Stadtbibliothek. Sie ist ein wahres architektonisches Wunder und lässt das Herz jedes Bibliophilen höherschlagen. Es erstaunt nicht, dass dieser Bau eines der Lieblingsmotive der Instagrammer ist. Von aussen konzipiert als strenge Schutzburg des Wissens, erweist sich das Innere der Bibliothek als lichtes Reich der Bücher. Man fühlt sich wie in einem weissen M.C.-Escher-Bild, mit unmöglichen Perspektiven und optischen Täuschungen. Der koreanische Architekt Eun Young Yi hat mit den klaren, weissen Ebenen und Verbindungstreppen eine fast surreal anmutende Atmosphäre erschaffen. Die Erschliessung zwischen den einzelnen Lesegalerien erfolgt über paarweise gedreht angeordnete Freitreppen, die als fliessende Flanierwege konzipiert sind. Klar strukturiert und mit einem Minimum an Materialien ausgestattet bilden die Buchrücken die einzigen Farbakzente. Was für ein Unterschied zu den muffigen altmodischen Bibliotheken anderer Städte und was für eine wunderbare, klug durchdachte Architektur. Eine brillante Heimat für insgesamt 500.000 zugängliche Medieneinheiten.
Bildung und Kultur werden in der Stadt seit jeher grossgeschrieben. So hat zum Beispiel die Waldorfpädagogik hier ihren Ursprung. Im September 1919 wurde die Freie Waldorfschule Uhlandshöhe auf Initiative von Emil Molt, dem Besitzer der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, gegründet. Er wollte vor allem den Kindern seiner Arbeiter zu dem bis dahin verweigerten «allgemeinen Menschenrecht auf Bildung» verhelfen. So entstand – alternativ zum staatlichen System – eine freie Schule für alle sozialen Schichten, die jedes Kind aufnahm, unabhängig von seiner Herkunft, Konfession oder Nationalität. Rudolf Steiner wurde von Emil Molt mit dem Aufbau des pädagogischen Konzeptes betraut. Entstanden ist eine Schule, in der es keine Noten und kein Sitzenbleiben gibt und Status, Geschlecht, Herkunft der Schüler keine Rolle spielen. Über 200 Kinder, darunter vor allem Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, zählten zu den ersten Schülern.
Paradebeispiel der Bauhaus-Architektur
Doch nicht nur im pädagogischen, auch im architektonischen Bereich steht die Stadt für Innovationen und Kreativität. Ein regelrechtes Manifest der Moderne bildet die Weissenhofsiedlung auf dem Killesberg. 1927 entstanden auf einem Hügel vor der Stadt 33 kubische Flachdachhäuser – ein mustergültiges Wohnprogramm für den modernen Grossstadtmenschen. Hierfür versammelte Ludwig Mies van der Rohe die 17 «charakteristischsten Vertreter der modernen Bewegung» aus fünf Ländern in Stuttgart – unter ihnen befanden sich der Holländer Mart Stam, Bauhausleiter Walter Gropius sowie die Siedlungsarchitekten J.J.P. Oud und Hans Scharoun. Die Architektur ist schmucklos, ohne jegliche Verzierungskunst, reduziert auf die Form. Am revolutionärsten sind Le Corbusiers «Wohnmaschinen», in denen nach dem Vorbild eines Zugabteils das Wohnzimmer durch Schiebewände und Schiebebetten in mehrere Schlafzimmer umgewandelt werden kann. Heute befindet sich hier das Weissenhofmuseum mit einer Ausstellung über die Geschichte der Weissenhof-Siedlung.

«Auch wenn ich hier nicht mehr leben wollen würde: Wir sind ganz klar eine Stuttgarter Band. Wir sind hier gross geworden, unsere Familien sind hier, unser Management auch und untereinander reden wir lustig schwäbisch.»
(Smudo von den Fantastischen Vier)
Kreativität am Hang
Einen starken Kontrast zum schmucklosen Bauhausstil bietet das Bohnenviertel, welches wir als Nächstes besichtigen. Am Rand der Stadtmauer wurden im 19. Jahrhundert unter Friedrich I. kleine Häuser errichtet, in denen Weingärtner, Handwerker, Händler und Gärtner lebten. Da sie in den Vorgärten Bohnen anpflanzten, bürgerte sich für diesen Teil Stuttgarts der Name Bohnenviertel ein. Sein ältestes Gebäude stammt noch aus dem 15. Jahrhundert. Das heute liebevoll renovierte Altstadtviertel wird geprägt von Galerien, Restaurants, Trödelläden und schwäbischen Weinstuben. Auch im Schellenturm, der letzte erhaltene Turm der mittelalterlichen Stadtbefestigung, befindet sich inzwischen eine Weinwirtschaft. Seinen Namen erhielt er von den Sträflingen, deren Gewand mit «Schellen» (Glöckchen) versehen war. Das Viertel mit dem kleinstädtischen Kopfsteinpflaster-Charme zieht Menschen der unterschiedlichsten Couleur an: Künstler, Secondos, Gastronomen, Nachtschwärmer und Studenten geben sich ein Stelldichein.
Im Westen angrenzend an das Bohnenviertel befindet sich das Leonhardviertel. Die Grenze zwischen den beiden Vierteln bildet das Züblin-Parkhaus, einer der spannendsten Kunstorte der Stadt. Nicht nur, dass sich auf dem Dach des Parkhauses ein Urban-Gardening-Projekt befindet, das Parkhaus selbst ist eine kleine Galerie. Die sonst grauen Parkhauswände werden jedes Jahr neu mit grossformatigen Fotodrucken bespielt – quasi eine Drive-Through-Ausstellung mit moderner Fotokunst. So wird das sonst kahle Gebäude für ein ganzes Jahr zu einem inspirierenden Ausstellungsort, den man jederzeit und ganz ohne Eintrittsgebühr aufsuchen kann. Hier lohnt sich auf jeden Fall ein kleiner Stopp auf dem Weg ins Leonhardviertel.
«Stuttgart ist eine schöne Stadt, nicht nur Wirtschaftsstandort. Das wird aber oft nicht wahrgenommen.»
(Wendelin Wiedeking, ehemaliger Vorstandsvorsitzender bei Porsche)
Gastronomische Perlen nicht nur im Rotlichtviertel
Das Leonhardviertel ist einer der ältesten Bezirke Stuttgarts – passenderweise hat sich hier auch gleich eines der ältesten Gewerbe der Welt angesiedelt. Im Vergleich zu anderen Städten präsentiert sich das Rotlichtmilieu jedoch recht beschaulich. Weitaus spannender als die Bordelle ist hier das gastronomische Angebot, das den Bezirk in den letzten Jahren zu einem der angesagtesten Spots im Kessel gemacht hat. So versteckt sich hier unter anderem das «Paul & George», eine der besten Cocktailbars der Stadt, aber auch die minimalistisch eingerichteten Bar Rooms des «Puf» und des «Korridors» sorgen für frischen Wind in der Altstadt. Hier muss keiner hungrig oder durstig nach Hause gehen.
Die traditionelle schwäbische Küche sieht zwar fast genauso aus, wie man sie sich vorstellt, doch wer glaubt, mit Maultaschen, Spätzle mit Linsen, Flädlesupp und «Nonnenfürzle» sei das kulinarische Vokabular der Stuttgarter bereits ausgeschöpft, irrt gewaltig. In der Stadt funkeln so einige Sterne am Gastrohimmel. Und egal ob im Restaurant «5», «Der Zauberlehrling», «Die Zirbelstube», dem «Olivo» oder in Vincent Klinks «Wielandshöhe», hier zaubern die Köche kleine Kunstwerke auf den Teller und bringen die Geschmacksknospen der Gourmets zum Erblühen. Auch in der Umgebung gibt es einiges zu erkunden, denn Baden-Württemberg hat in Sachen Sterneküche bereits seit einigen Jahren die Nase vorn. Mit 77 im «Guide Michelin» ausgezeichneten Restaurants steht das Bundesland unangefochten vor den Bayern, mit gerademal 52 Sternen, auf Platz eins. Kulinarisch geht es auch in der Stuttgarter Markthalle zu. Das Jugendstil-Gebäude des Architekten Martin Elsaesser ist ein einziges Fest der Sinne. Ob Käse, italienische Antipasti, spanische Chorizo, frisches Obst oder Gemüse, in der Markthalle gibt es einfach alles. Noch mehr angetan als von den Leckereien waren wir jedoch vom Angebot des Warenhauses «Merz & Benzing» im ersten Obergeschoss. Auf über 3.000 Quadratmetern offeriert das Warenhaus Schönes und Nützliches für ein stilvolles Heim.

Viele lokale Unternehmen und Start-ups sprühen förmlich über vor kreativen Ideen: innovative Designermode von «Vanouken», «Seehaus.B» und «Codierbar», witzige Accessoires von «Atelier Anna Auras» und «Artemishian» sowie geniales Lampendesign von «Fernlicht» und «Wandelwerk» – in Stuttgart haben viele kleine Labels ihren Sitz, hier macht Einkaufen endlich wieder Spass, denn wie bereits der Slogan von «Geheimtipp Stuttgart» besagt: «Nie wieder 08/15 immer 0711».
Aussichtspunkt
Besonders im Sommer ist der Eugensplatz ein beliebter Treffpunkt. Zum einen wegen seiner einmaligen Aussicht, zum anderen wegen des leckeren Eises der traditionsreichen Eisdiele «Pinguin». Die Eugenstaffel gehört übrigens zu den schönsten Stäffele Stuttgarts. Durch die Lage im Talkessel gibt es in Stuttgart so viele Freilufttreppen, hier Stäffele genannt, wie kaum in einer anderen Stadt.
Auf ein Gläschen …
Diesem Motto verschreibt sich auch die Barszene der Stadt. In den ungewöhnlichsten Locations trifft man sich auf ein Bier oder einen Gin Tonic. Im «Jigger & Spoon» verbringt man den Abend zwischen 90 Zentimeter dicken Stahlwänden, denn die Bar befindet sich in einem ehemaligen Banktresor. Strandfeeling hingegen versprüht der «Sky Beach» auf dem Parkdeck eines Kaufhauses. Mit rund 100 Tonnen Sand und Liegestühlen bringt diese Bar Stuttgart dem Meer ein Stückchen näher. In der Quartierskneipe «Sattlerei» hingegen werden, wo einst das Zaumzeug und die Geschirre der Brauereipferde gelagert wurden, 28 Biersorten der Dinkelacker-Brauerei angeboten. Kultstatus hat sicherlich auch der «Palast der Republik». Erbaut 1926 diente das Gebäude zunächst als WC-Häuschen und seit den 1930er-Jahren als Zeitschriftenkiosk. Heute ist er einer der In-Spots der Stuttgarter Nachtschwärmer. Seit fast 30 Jahren heisst es nunmehr: Longdrinks aus dem Klohäuschen.

Begnadete Tüftler
Pro 100.000 Einwohner werden in Baden-Württemberg jährlich über 120 Patente angemeldet. In Stuttgart sind es sogar mehr als 140 – europaweiter Rekord. Den vielen gescheiten Leuten verdankt die Stadt ihre florierende Industrie. Allen voran Gottfried Daimler, Wilhelm Maybach und Ferdinand Porsche. Sie machten Stuttgart zu Deutschlands Autostadt. 1885 fuhr das erste Automobil aus Gottlieb Daimlers Versuchswerkstatt. Aber auch Robert Bosch machte sich als Erfinder einen Namen. Im technischen wie auch sozialen Bereich setzte er auf Innovationen. So führte er zum Beispiel als einer der ersten den Achtstundentag ein und achtete auf eine faire Entlohnung seiner Angestellten. Unser Tipp: Besuchen Sie das Mercedes-Benz-Museum, denn es ist das einzige Automuseum der Welt, das die Geschichte der Automobilindustrie vom ersten Tag an lückenlos darstellen kann.
Fazit: Es mag andernorts mehr Hipster und Boulevardschickeria geben und man mag über die biederen Häuslebauer mit ihrem putzigen Dialekt schmunzeln, doch bei genauerer Betrachtung ist Stuttgart viel cooler, als man denkt. Vielleicht schwäbisch, unaufgeregt cool. Kurz: In Stuttgart verliebt man sich einfach auf den zweiten Blick!