Die Inkas haben weder das Rad erfunden noch das Rad entdeckt, aber sie waren die Meister der Fasern. Sie benutzten sie für den Bau ihrer Schiffe und zur Fertigung ihrer Waffen. Ihre stärkste Waffe, die Schleuder, besass genug Schlagkraft, um ein Stahlschwert zu spalten.

Die Inkas hatten keine geschriebene Schrift auf Papier, auch keine in Stein gemeisselten Zeichen wie etwa die ägyptischen Hieroglyphen oder die Schriftzeichen der Maya, aber sie hatten dennoch ein Kommunikationsmittel: Knotenschnüre. Unter Verwendung geknoteter Schnüre entwickelten sie eine Schrift, die als Khipu bekannt ist. Sie besteht aus einer Hauptschnur, von der, wenn man sie aufspannt, weitere Kordeln wie Strahlen herunterhängen. In diesen abfallenden Kordeln oder Schnüren befinden sich oft kleine Knoten. Manche Khipus sind einfarbig, beige, andere haben farbige Fasern – Brauntöne, Rot, Blau. Die Schnüre und Knoten transportieren Nachrichten, die bisher jedoch noch nicht entziffert werden konnten. Sollte es gelingen, die Codes zu knacken, könnte die Geschichte der Inkas neu erzählt werden.

Mithilfe von Fasern lösten die Inkas auch das Problem, tiefe Schluchten zu überqueren. Noch bevor in Europa auch nur eine einzige Hängebrücke gespannt wurde, transportierten die Inkas in den Anden bereits Waren, Tiere und Menschen über mehr als 200 «fasrige» Brücken. Die berühmteste unter ihnen war 45 Meter lang. Thornton Wilder setzte ihr in seinem Roman «Die Brücke von San Luis Rey» ein Denkmal. Sie bestand bis ins 19. Jahrhundert. Dann stürzte auch sie ein. Heute ist von den Grasbrücken der Inkas nur noch eine erhalten: die Q’iswachaka, die sich mit einer Spannweite von 30 Metern über eine Schlucht erstreckt. Sie ist circa 500 Jahre alt und trägt bis zu 56 Menschen, wenn diese gleichmässig auf ihrer Länge verteilt werden. Als eine von Hunderten ähnlichen Seilbrücken des Inkareichs diente sie als Verbindungsglied der Grossen Inkastrasse. Sie war Teil des Inka-Strassensystems, das sich auf mehr als 30.000 Kilometer erstreckte und entlegene Gemeinden und Siedlungen miteinander vernetzte. Dank dieses Systems konnten Soldaten, Boten und ganz gewöhnliche Bürger das Inkareich durchqueren.

Die Q’iswachaka wurde aus Ichu, einer Pflanzenfaser, die in der Hochebene der Anden reichlich vorkommt, hergestellt. Jedes Jahr im Juni wird die Brücke im Zuge einer aufwendigen Zeremonie erneuert. Inzwischen ist sie viel mehr als eine Brücke. Sie ist lebendiges Zeugnis aus der Zeit der Inka und Symbol für das Wissen und die grossartige Fertigkeit dieser untergegangenen Hochkultur.

2013 wurden die Kenntnisse, Techniken und Rituale, die mit der jährlichen Instandsetzung der Brücke Q’iswachaka verbunden sind, in die repräsentative Liste der immateriellen Kulturgüter der Menschheit von der UNESCO aufgenommen. Zudem ist ihre Überquerung ganz bestimmt auch eine Mutprobe – nichts für schwache Nerven und Menschen mit Höhenangst.