Waldbaden: «Shinrin Yoku» oder «Im-Wald-Sein» – dieser japanische Trend findet auch in hiesigen Gefilden immer mehr Anhänger. Grosser Humbug oder Gesundheitskonzept mit Potenzial? Wir haben es ausprobiert.

«Wenn ich da Bäume umarmen muss oder mit Moos sprechen soll, fahre ich gleich wieder nach Hause», mault meine Begleitung, die jeglicher Aktivität, die auch nur annähernd nach Esoterik klingt, skeptisch gegenübersteht. Wir sind auf dem Weg ins Allgäu und wollen dort ein Wochenende lang Waldbaden. Dafür kehren wir im Haubers Naturresort in Oberstaufen ein. Das Haus setzt seit einiger Zeit neben Heilfasten auch auf Waldmeditation, Work-out unter Tannenwipfeln und Energietanken beim Baumsetzen. Mit seinem 60 Hektar grossen Wiesen- und Waldareal verfügt das Resort über die perfekten Bedingungen, um möglichst unkompliziert von den positiven Effekten des wortwörtlichen «Badens in der Waldluft» zu profitieren.

Die heilende Wirkung des Waldes
«Eigentlich ist Waldbaden ganz einfach. Man muss sich nur einige Zeit im Wald aufhalten. Für viele Menschen ist es jedoch gar nicht mehr so selbstverständlich, einen Waldspaziergang zu machen», erfahren wir von Susanne Gürtler vor unserer ersten Waldbadesession. Sie ist als Heilpraktikerin für das Vital- und Wellnesshotel Haubers tätig. Regelmässig geht sie mit Gästen in den hauseigenen Wald und führt sie in die Waldmeditation, Kräuterkunde und die verschiedenen Aspekte des Waldbadens ein. Ständig ermutigt sie uns beim Spaziergang tief einzuatmen und auf das zu achten, was unsere Sinne anspricht – zum Beispiel die Textur einer Birkenrinde und der Geruch von wilden Blumen oder Kiefernzapfen. Langsam und gemächlich geht es zu.

Im Wald zu sein, tut Körper und Seele gut. Das ist nichts wirklich Neues für uns. Aber es ist auch wissenschaftlich bewiesen. Japanische Ärzte haben dafür sogar einen eigenen Ausdruck: «Shinrin Yoku» – «Waldbaden». Und das zählt dort längst zur ganzheitlichen Gesundheitsvorsorge. Der Begriff Shinrin Yoku beschreibt den Kontakt mit und in der Atmosphäre des Waldes. Langjährige Forschungsergebnisse haben ergeben, dass der Aufenthalt im Wald den Blutdruck und den Puls senkt sowie auf natürliche Weise Stresshormone reguliert. «Zudem kam auch heraus, dass Waldluft die sogenannten Killerzellen vermehrt und aktiviert, denn so wie Bäume untereinander kommunizieren, kommuniziert auch unser Immunsystem mit dem Wald», erklärt uns die Heilpraktikerin weiter. Pflanzen schütten chemische Verbindungen aus, sogenannte Terpene, und geben sie an die Luft ab. So warnen sie andere Pflanzen vor Angreifern oder Schädlingen, die daraufhin ihr Immunsystem hochfahren, um sich zu schützen. Auch wir Menschen empfangen diese Signale, wenn wir durch den Wald gehen, und auch unser Immunsystem reagiert darauf, indem es aktiv wird. Fährt unser Immunsystem hoch, werden mehr weisse Blutkörperchen gebildet, sogenannte Killerzellen. Nach einem Waldspaziergang sind es etwa 50 Prozent mehr als davor. Sie sind dann auch langanhaltend aktiver und bekämpfen nicht nur körperfremde Keime, sondern auch körpereigene Krebszellen.

Zeit zum Abtauchen
Spaziergänge durch den Wald, verbunden mit Atemübungen und Meditation, sind die wichtigsten Faktoren dieser Waldtherapie. «Ein ganz wichtiger Faktor beim Waldbaden ist jedoch die Zeit», weiss Susanne Gürtler. «Man geniesst die klare Naturluft, um dem Stress des Alltags entgegenzusteuern. Man lässt sich Zeit und versucht tief in die Waldatmosphäre einzutauchen.» – Leichter gesagt, als getan. Wir sitzen auf dem Waldboden, haben die Augen geschlossen und mich nervt das penetrante Summen einer Fliege. Immer wieder spicke ich, was die anderen Waldbadenden machen. – Sie lauschen der ruhigen Stimme der Heilpraktikerin, die versucht, unsere Aufmerksamkeit einzig und allein auf den Wald zu lenken. So schliesse auch ich wieder die Augen, lausche dem Wind in den Bäumen, rieche das Holz, fühle die Sonne auf meiner Haut und die weiche Polsterung des Mooses. Meine gesamte Konzentration fliesst ins Hier und Jetzt, in die eigene Wahrnehmung. Plötzlich stört selbst die Fliege nicht mehr, und auch die anderen Teilnehmer sind einfach vergessen. Nach circa 20 Minuten beenden wir die Waldmeditation und ich kehre völlig entspannt langsam zum Hotel zurück.

Back to the Roots
Auf dem Rückweg entdecke ich Waldbeeren und einen Bergmolch, den ich seit meiner Kindheit nicht mehr zu Gesicht bekommen hab. «Genau so funktioniert Waldbaden», lobt mich Susanne Gürtler, «Waldbaden bedeutet nicht, möglichst viel Strecke zu machen, sondern sich ganz und gar auf den Ort einzulassen, an dem man sich befindet. Mit offenen Augen auf Kleinigkeiten achten. So legt man in zwei Stunden maximal zwei bis drei Kilometer zurück. Einfach die Ruhe und die Unaufgeregtheit der Natur geniessen.» Ich erinnere mich wieder an die langen Waldspaziergänge in meiner Kindheit, wie man über grünes Moos hüpfte, während der Laubboden unter den Füssen federte, der würzige Duft Erde in die Nase stieg und die Hände vom Harz der Bäume klebten. Als Kind entdeckt man den Wald mit allen Sinnen – allerdings unbewusst. Ein bisschen erschreckt es mich, dass wir das verlernt haben. Aber es stimmt, was wir von der Heilpraktikerin vermittelt bekommen: «Eine Begegnung mit der Natur ist eine Begegnung mit sich selbst.» Bereits nach dem zweiten Tag Waldbaden entdecken wir eine grosse Begeisterung für das ganz Einfache und Ursprüngliche. Ganz deutlich spüren wir eine körperliche und geistige Ausgeglichenheit und neue Achtsamkeit. Und selbst meine sonst so skeptische Begleitung fühlt sich, wie sie sagt, «völlig entschleunigt und neu geerdet». Obwohl wir nichts anderes getan haben, als eine Zeit im Wald verbracht – ganz ohne Bäume zu umarmen.

Fazit: Das Gute am Waldbaden – es beinhaltet keinerlei Unkosten und steht jedermann offen. In der heutigen stressgeplagten Gesellschaft ist eine Methode, die frei zugänglich ist, so effektiv wirkt und auch noch Spass macht, ein Segen. Der Wald steht jedem offen, nur Hineingehen muss jeder selbst. Wer selbst die Vorteile von Shinrin Yoku für sich nutzen möchte, der sollte sich regelmässig zum nächsten Wald aufmachen und während des Naturspaziergangs das Handy ausschalten – schliesslich möchte man völlige Ruhe geniessen. So wird Waldbaden zur sanften Therapie für Körper und Geist.