Reisende: Yvonne Beck
Ort: Tokio
Aufenthaltsdauer: 1 Woche
Taki lebt in Tokio. Er arbeitet in einer Rückversicherungsgesellschaft. Sein Büro hat kein Fenster und ist vier Quadratmeter gross. Es hat Platz für einen kleinen Schreibtisch, einen Stuhl und einen kleinen Schrank. Auf seinem Schreibtisch häufen sich Akten links und rechts vom Computer, in den er tagtäglich Zahlen eintippt. Taki setzt sich selbst häufig unter Druck: Er versucht, in allem immer gut zu sein und hat Angst davor, Fehler zu machen. Wenn er mal etwas vergisst, dann bricht die Welt für ihn zusammen. Für gewöhnlich beginnt Taki um 7.30 Uhr mit der Arbeit und schaltet erst gegen 20.00 Uhr den Rechner aus. Egal wie schnell er arbeitet, der Aktenstapel wird nie kleiner. Jeden Morgen kommt Frau Minowa aus dem 22. Stock und bringt Nachschub. An manchen Tagen ist es so viel, dass er gar nicht nach Hause geht, sondern im Büro übernachtet. Zuhause wartet sowieso niemand auf ihn.
Taki ist 34 Jahre alt und hatte noch nie eine Beziehung. Wenigstens nicht zu einem realen Menschen. Ihm fehlt auch keine, so sagt er zumindest. In Japan redet man nicht über private Dinge und schon gar nicht über Sorgen und Nöte – damit «belästigt» man seine Umgebung nicht und schon gar nicht seine Freunde oder Familie. Er glaubt nicht, dass eine Frau jemals an ihm Interesse zeigen wird. Japanische Frauen lieben die Perfektion und Taki empfindet sich alles andere als perfekt. Er mag nicht wie er aussieht, dabei ist eigentlich nichts an ihm auszusetzten. Nur jeder zehnte Japaner ist mit seinem Aussehen zufrieden. Zu hoch sind die Ansprüche an sich selbst.
Im Netzt surft und kommuniziert er unter einem erfundenen Namen, mit falscher Altersangabe und einem fiktiven Lebenslauf. Hier sieht er wirklich scharf aus, ein echter Womanizer. Nur hier fühlt er sich wohl und frei. Hier kann er sogar ein kleines bisschen Held sein und ist viel mutiger als im wahren Leben. Am liebsten würde Taki seine kleine Wohnung gar nicht mehr verlassen und gänzlich in die virtuelle Welt eintauchen, aber er muss ja Geld verdienen. Er trifft nur ungern auf Menschen und meidet Unterhaltungen. Auf dem Weg zur Arbeit trägt er stets einen Mundschutz – wie viele andere Japaner auch. Er trägt die Maske nicht, weil er krank ist oder Angst hat sich bei jemandem anzustecken, sondern als Schutz vor Kommunikation. Jemanden mit Mundschutz spricht man so schnell nicht an. Den Kontakt zur Aussenwelt und Mitmenschen beschränkt er auf das Allernötigste. Selbst der tägliche Kontakt zu Frau Minowa geht über ein kurzes «Konnichiwa» – «Guten Tag» – nicht hinaus. Und das bereits seit sieben Jahren. Dabei ist Frau Minowa eigentlich ganz niedlich und schätzungsweise zwei, drei Jahre jünger als er. Doch er weiss noch nicht einmal ihren Vornamen und wird sich niemals trauen sie auf einen Drink einzuladen. Dabei würde er zu gerne wissen, ob sie sich auch manchmal vor dem realen Leben fürchtet. Doch darüber spricht man nicht.