Von Grantlern, Schickeria & urbaner Gmiatlichkeit

«Kruzifix, bist Du deppert?» Prinzipiell kann dieser Satz in München, dem grössten Dorf der Welt, der nördlichsten Stadt Italiens, zu jeder Zeit an jedem Ort und von jeder Person – natürlich stets berechtigt – ausgesprochen werden.

Text: Sabrina Hasenbein

Dabei spielt es keine Rolle, ob ein U-Bahn-Fahrer einem speziellen Fahrgast durch das Mikro hindurch den Kopf abreissen möchte, ob ein Fussgänger einen Fahrradfahrer im Englischen Garten mit diesen Worten zusammenfaltet, weil der Radler womöglich zu schnell, zu langsam, zu nah oder einfach nur präsent war, oder ob eine Bedienung auf dem Oktoberfest einen italienischen Halbstarken rein vorsichtshalber liebevoll in seine Schranken weist. Grundsätzlich, und das ist besonders schön, ist es ganz egal, ob der Auslösende dieser Reaktion jene Worte überhaupt versteht, ein ganz klein bisschen unschuldig war oder lieber gesiezt wird. Der Ur-Münchner äussert sich einfach gerne, ohne jeglichen Unrechtszweifel und bevorzugt grantig und in der Du-Form. Doch zur Verteidigung: Der bayerischen Sprache fehlt es eben a bisserl an Lieblichkeit. Haxn, Brezn, Du Sepp, Griass Gott, Schleich Di, O’zapft is, Bazi, Knedl, Zamperl und Mingga können selbst elfengleiche Geschöpfe nicht anmutig aussprechen.

Aber in der selbsternannten Weltstadt mit Herz kann es durchaus auch charmant zugehen: So bandelt man gerne o, gibt ein Bussi, sagt dem Spatzl, wie fesch es sei, und lässt sich schnell zu einem «I moag Di» hinreissen. Aber wer spricht hier eigentlich noch echtes Bayerisch? Es scheint, als wären die meisten Einheimischen Zugezogene, die sich den Münchener Lebensstil viel kosten lassen: schicke Tracht von Lodenfrey, Weisswurstfrühstück bei Käfer oder im Dallmayr, Mietpreise über 20 EUR/m² und, natürlich, der Erwerb eines BMW.

Münchner sind sehr stolz, so nah an den Bergen zu wohnen; jedes Wochenende wird darüber nachgedacht, gen Süden zu fahren. Zumeist bleibt man allerdings doch in der Stadt. Aber: Allein für die Idee des Erreichens der Berge wird selbstverständlich ein SUV mit Allradantrieb benötigt. Oder ein Porsche Cabrio – denn die Anreise involviert ja auch eine Autobahn. Parkplatzprobleme im Zentrum? Natürlich nicht, denn diese Statussymbole verfügen über ein Exklusivrecht, auf dem Bürgersteig und vorm Promi-Italiener in zweiter Reihe stehen zu dürfen. Das kleine «Kruzifix, bist Du deppert?» nimmt man dafür auch gerne in Kauf.

Apropos Cabrio: Es ist nicht ganz eindeutig, ob die Liebe der Münchner zur frischen Luft entstand, weil man sich in der nördlichsten Stadt Italiens und damit im endlosen Hochsommer zu befinden glaubt, oder ob der Besitz eines Cabrios und einer schicken Sonnenbrille quasi zur saisonal-unabhängigen Präsentation zwingen. Sicher ist: Wenn es draussen Tische und Stühle gibt, werden diese immer genutzt, das Cabrio wird zu jeder Jahreszeit ausgefahren und die Sonnenbrille rund ums Jahr getragen – irgendetwas (oder -jemand) blendet schliesslich immer. Obwohl sich der Münchner mit Auto und Brille gerne auf Einkaufsstrassen zeigt, haben flexible Ladenöffnungszeiten jedoch keine Chance. Ein Supermarkt, der nach 20 Uhr geöffnet hat? Niemals! Man ist eben doch in vielerlei Hinsicht konservativ. Und wenn man sich schon aus dem Fenster lehnt und – zumindest temporär – etwas total Szeniges duldet, dann doch bitte mit Niveau. So beheimatet das Werksviertel am Ostbahnhof ein Musicaltheater, und die Graffitis im Schlachthofviertel sind … irgendwie Kunst.

Aber genau deshalb macht München Spass. Eben weil es so schön und glatt ist und Flair hat. Und prächtig und elegant und auf seine eigene Art ein bisschen verrückt ist. Das Mass der Dinge ist die Mass Bier, lebensqualitätsentscheidend sind die knusprige Weichheit und die weiche Knusprigkeit der Brezn, der Bürgerentscheid lehnt eine dritte Startbahn ab (München entscheidet sich für Dorf), vielleicht wird sie aber einfach doch gebaut (schliesslich möchte man irgendwann Weltstadt sein) und die Nackerten an der Isar erinnern an Münchens einstige Hippie-Kultur (nicht zu verwechseln mit hip sein – das wiederum ist ausgeschlossen). München hat vor allem Tradition und Geschichte. Hier und da gibt es zarte Versuche, Trendsetter zu sein. Doch insgesamt benutzt der Wandel der Zeit in München nicht gerade die Überholspur – obwohl er es mit einem BMW locker könnte. Und vielleicht ist genau das das Geheimnis der Stadt: Sie könnte, sie will aber nicht – zumindest nicht immer und wenn, dann in ihrem eigenen, gmiatlichen Tempo mit einem «Schau ma moi, dann seng mas scho!»