Kibbuz: Alles für die Gemeinschaft

Vor etwa 118 Jahren wurde in Israel der erste Kibbuz gegründet. Einer jener dörflichen Zusammenschlüsse, in deren ursprünglichen Form alle Mitglieder gleichgestellt und unabhängig von Ausbildung, Herkunft und Geschlecht mit kollektivem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen zusammenlebten. Wir trafen Abigale, welche selbst seit über 45 Jahren im Kibbuz Mashabe Sade lebt, und unterhielten uns mit ihr über die Vergangenheit und die Zukunft der Kibbuzim sowie ihre eigenen Motivationsgründe für diese Lebensform.

Text: Yvonne Beck

Jahrzehntelang kehrten viele Israelis dem Kibbuz den Rücken, heute zieht es viele junge Menschen wieder zurück. Woran liegt das Ihrer Meinung?
Das System des Kibbuz hat seit seiner Gründung viele Veränderungen erlebt. Sehr viele Kibbuzim sind heute eher kapitalistisch organisiert. Aber an den Grundprinzipien halten wir weiterhin fest. Die Erziehung der Kinder, das Solidaritätsprinzip, medizinische Versorgung und Erziehung haben höchste Priorität. Bei uns herrscht eine hohe Lebensqualität. Wir leben in einer behüteten Gemeinschaft, in der man noch füreinander bürgt. Aber vor allem die Erziehung der Kinder ist viel besser als in den meisten Grossstädten. Unser Leben gleicht dem Leben in einer Grossfamilie. Man sorgt noch füreinander, man sorgt für die Alten und hilft jungen Müttern oder unterstützt Hinterbliebene. Gemeinschaftsgefühl wird bei uns ganz grossgeschrieben. Zudem ist das kulturelle Leben äusserst vielfältig.

Seit wann leben Sie im Kibbuz und warum?
1947 rief Ben Gurion die israelische Stadtbevölkerung auf, in die Wüste Negev zu ziehen und Siedlungen zu bauen. Er wollte die Wüste fruchtbar machen und eine ägyptische Invasion verhindern. Von hier aus ist die ägyptische Grenze beispielsweise nur 30 Kilometer entfernt. Viele, die seinem Ruf folgten, waren junge Menschen, die behütet in Grossstädten aufgewachsen sind. Häufig waren es Kinder von Holocaust-Überlebenden. Ich selbst zog 1976 ins Kibbuz. Damals war ich gerade 18 Jahre alt.

Was fanden Sie vor?
Wir zogen ins Nichts, um eine Siedlung aufzubauen. Anfangs gab es noch nicht einmal Wasser. Doch wir waren von unserem Weg überzeugt. Wir waren eine Gruppe junger, hoch motivierter Menschen mit Visionen. Wir arbeiteten hart, haben Familien gegründet, Kinder bekommen und zudem Waisenkinder adoptiert. Die Gemeinschaft steht über allem. Das Leben in einem Kibbuz war der Inbegriff einer mustergültigen Lebensgestaltung. Wir haben sehr bescheiden gelebt. Meist mehrere Menschen in einem Zimmer. Unser Ziel war es, dadurch den jungen Staat Israel zu unterstützen.

Kinderbetreuung, Haushalt und harte körperliche Arbeit auf dem Feld – Wie haben Sie das alles unter einen Hut gebracht?
Nur in der Gemeinschaft war dies möglich. Die Kinder lebten in einem sogenannten Kinderhaus. Dort haben sie gemeinsam gegessen, gelernt, gespielt und geschlafen. Drei meiner fünf Kinder sind so gross geworden. Dadurch sollten sie auf ein gemeinschaftliches Leben vorbereitet werden. Die Eltern hatten die Kinder immer nur stundenweise, denn die Mütter waren bei der Arbeit fest eingebunden. Man lebte, arbeitete und ass gemeinsam.

Viele Jahre war es um die Kibbuzim schlecht bestellt …
Ja, ab dem Jahr 1977 wurden bereits Subventionen gekürzt. Viele Kibbuzim kamen in arge finanzielle Bedrängnis. Viele trieb die Wirtschaftskrise und die Misswirtschaft in den Ruin. Zudem nahm das Kollektivbewusstsein immer mehr ab. Die eigene Familie wurde wieder wichtiger, und sehr viele Frauen übernahmen wieder die traditionelle Frauen- und Mutterrolle. In unserem Kibbuz war unsere Lebensweise noch bis 1985 sozialistisch geprägt – sprich ohne jeglichen Privatbesitz. Inzwischen hat sich einiges geändert, und auch ich denke über vieles etwas anders. Doch meine Grundprinzipien sind die gleichen geblieben.

Wie viele Menschen leben heute im Kibbuz Mashabe Sade?
Momentan haben wir 174 Mitglieder. Kindern, die zurückkehren wollen, muss erst eine Mitgliedschaft gewährt werden.

Wovon lebt Ihr Kibbuz?
Wir leben von verschiedenen Wirtschaftszweigen, unter anderem vom Tourismus, der Herstellung von Armaturen, zudem haben wir einen Kuhstall, einen Hühnerstall und Landwirtschaft. Wir beschäftigen sogar Menschen, die nicht zum Kibbuz gehören, und auf der anderen Seite haben viele unserer Mitglieder Jobs ausserhalb des Kibbuz. Ihr Gehalt fliesst in eine Gemeinschaftskasse aus der alle Kibbuz-Mitglieder das gleiche ausbezahlt bekommen – egal, ob Professor, Ärztin oder Handwerker. Der Kibbuz übernimmt für alle die Miete, Krankenkasse und medizinische Versorgung.

Wie halten Sie den Nachwuchs?
Wenn unsere Kinder nach dem Militärdienst (Männer dienen drei Jahre, Frauen zwei Jahre) ein Jahr im Kibbuz arbeiten, bekommen sie von uns ihr Studium finanziert. Allein im letzten Jahr kamen 35 unserer Kinder und ihre Familien zurück in den Kibbuz. Darauf sind wir sehr stolz.