Leipzig erhielt im Laufe ihrer eindrucksvollen Geschichte zahlreiche Beiname: Messestadt, Musikstadt oder auch Heldenstadt aufgrund der Friedlichen Revolution von 1989. Heute regiert in ihr eine dynamische Kreativszene in der noch echte Menschen leben, die nicht gerne als «Hypeziger» bezeichnet werde.
Leipzig ist Deutschlands Boom-Stadt. In den Jahren seit der Wende stieg die Einwohnerzahl der Stadt kontinuierlich an. Momentan leben zirka 596.500 Menschen hier. Viele von ihnen kamen auf der Suche nach bezahlbaren Mieten und/oder um sich künstlerisch auszutoben. Beides fanden sie in dem alten westlichen Industrieviertel von Plagwitz. Hier warteten Reihen leerstehender Fabriken darauf, in Ateliers und Ausstellungsräume verwandelt zu werden.
Alte Gemäuer. Neue Ideen
Im Westen Leipzigs ist Vielfalt ist hier nicht nur ein Wort. Kulturell brennt seit längerer Zeit im Stadtteil Plagwitz förmlich die Luft. Theater haben hier ihre Spielstätte und immer neu Kreativ-Gruppen erwachen hier zum Leben und «bewildern» die Arena. Gerade die Balance aus bereits international anerkannten und nichtkommerziellen, teilweise konspirativen Orten sowie fördermittelfreien Kulturstätten und gut organisierten Verbänden macht den Stadtteil beweglich, bunt und aufregend. Von der Kneipe bis zum Konzertsaal spielt hier die Musik und fast täglich finden Lesungen, Diskussionen oder Filmabende statt. Selbst die mitteldeutsche Operettenwelt hat den Westen Leipzigs für sich entdeckt. Plagwitz und Lindenau sind ein sich ständig änderndes Mosaik aus Restaurants, Galerien und Clubs in alten Industrieräumen. In denen es auch mal gerne etwas unkonventioneller zugehen darf.
Hier spinnt man Kunst
Der Primus unter den hier angesiedelten Kulturinstitutionen ist die Spinnerei. Sie widmet sich getreu dem Motto: «From cotton to culture» der Kunst. Vor über 125 Jahren kaufte die Leipziger Baumwollspinnerei AG ein Grundstück von zirka zehn Hektar Grösse im Leipziger Westen. Sie errichtet darauf die grösste Baumwollspinnerei Kontinentaleuropas. Die faszinierende Fabrikstadt mit Arbeiterwohnungen, Gartensiedlungen und eigenem Kindergarten ist heute noch komplett erhalten. Seit der Abwicklung der Baumwollgarnproduktion 1992 wurde der Ort vor allem von Künstlern, von denen über 100 ihre Ateliers in der Spinnerei haben, neu belebt. Heute gilt das Gelände als Herzstück der Leipziger Kunstszene – allen voran die Neue Leipziger Schule um Malerstar Neo Rauch, der hier sein Atelier hat. Auf den zirka 100000 Quadratmetern befinden sich Galerien, eine Druckerei, Projekträume und Handwerksgewerbe. Zwei Mal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, lädt die Spinnerei zum grossen Rundgang ein und Künstler öffnen ihre Ateliers. Weitaus häufiger öffnet das Luru-Kino seine Pforten. Hinter dem hohen Schornstein der Spinnerei, die Kellertreppe hinab erwartet die Besucher auch hier jede Menge Kunst. Die Tapeten der Räume sind Original-Linol-Schnitte von Künstler Christoph Ruckhäberle, der gemeinsam mit Michael Ludwig das Luru führt (daher auch der Name des Kinos: («Lu» steht für Ludwig, und «ru» für Ruckhäberle). Das kleine Programmkino mit täglichem Spielbetrieb hat einen Hang zu streitbaren Regisseuren und Aussenseitern. So hat die Kunst jeden Quadratzentimeter der Spinnerei erobert, selbst die Kellerräume und die Verbindungsgänge der einzelnen Gebäude in denen konstante Temperaturen zwischen 16 und 17 Grad die ideale Bedingungen für die Druckereien, die sich hier unten angesiedelt hat, herrschen.

Multimediales Kunstmekka
Die neueste industrielle Metamorphose im Westen Leipzigs ist das Kunstkraftwerk. Das einst bereits bröckelnde Kraftwerk wurde zu einem riesigen Installationsraum umgebaut, der nun experimentelle Künstler aus aller Welt anzieht. Es werden Installationen, Videos, Fotografien und grossformatige Skulpturen von Künstlern aus aller Welt gezeigt.Wer heute durch die denkmalgeschützten Hallen und Keller geht, kann die Geschichte mit Händen greifen. Die Fundamente der Heizkessel sind erhalten, dazu ein Kohletrichter, ein Staubfilter, Dampfverteiler, Förderbänder, die Schaltzentrale und anderes mehr – kein postindustrieller Charme, sondern authentische Erinnerung. Mit Energie hatte der Ort also schon immer zu tun –Nur das diese Energie heute in Kunst verwandelt wird. Was bis zur Wende die Arbeiterhochburg war ist heute von einer kreative Szene mit bunter Lebensweise mutiert. Lindenau und Plagwitz zwei Quatiere in denen man sich kennt, weit entfernt so manch anderer anonymen Grossstädt-Bezirke. Leider steigen auch hier die Mieten inzwischen an, was hip wird, wird auch teurer. Viele blicken daher Richtung Osten auf die noch «wilderen» Stadtgebiete in denen hinter vernagelten Ladenfronten, Pop-up-Galerien öffnen, neue Clubs und Cafés entstehen, die manchmal innerhalb weniger Wochen bereits wieder geschlossen sind. Und so finden jenseits des «Rings» der Innenstadt zwischen Grünbrachen und Industriedenkmälern viele spannende Experimente statt.
Wasser marsch!
Doch Leipzig hat noch mehr zu bieten als Kunst und Kultur. Die Stadt ist umgeben von einem einladendem Grün und auch mittendrin gibt es jede Menge Parks, die zum Verweilen einladen. So ist der Plagwitzer Stadtteilpark zum Beispiel mittlerweile ein Geheimtipp der Boule-Community. Manch einer nennt Leipzig gerne Klein-Venedig. Grund ist das vielfältig verzahnte System aus natürlichen Flussläufen sowie künstlich angelegten Kanälen und Mühlgräben, das der Stadt einen ganz besonderen Charme verleiht. Der Karl-Heine-Kanal, einst Lebensader der Industrie und völlig verdreckt, ist heute ein wichtiger Naherholungsstrang mit Wasserwandermöglichkeiten, Bootsverleih und Radweg. Der Kanal verbindet aus der Wasserstrecke von 3,3 Kilometer Länge den Lindenauer Hafen mit der Weissen Elster.
Der Wasserlauf ist mit dem Kanu befahrbar, das sich unter anderem beim Leipziger Stadthafen, aber auch an zahlreichen anderen Stellen ausgeliehen werden kann. Bei diesem Ausflug bekommen Wasserwanderer neben den Brücken auch ehemalige Industriearchitektur mit kunstvollen Fassaden zu sehen. Fassaden zu sehen. Ganz fleissige Paddler können über die Verbindung zur Weissen Elster mit dem Boot sogar bis in das Leipziger Neuseenland gelangen. Mit etwas Glück erspäht man Unterwegs eine der Biberratten Nutria, deren Fell zu DDR-Zeiten exportiert wurde und in grossem Stile gezüchtet wurden. Nachdem man für die südamerikanischen Tiere keine Verwendung mehr fand, lies man diese in Elsterufernähe frei.
Vom Tagebau zum Naturparadies
Ja, und auch das Leipziger Neuseeland ist mit dem Fahrrad nur zwanzig Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Wo einst die Förderung von Braunkohle das Landschaftsbild bestimmte, entstand durch Flutung der Tagebaue dieses einzigartige Naherholungsgebiet. Insgesammt entstehen zwanzig Seen mit einer Gesamtwasserfläche von 70 qkm. Windsurfen auf dem Markkleeberger See, eine Bootstour auf dem Cospudener See oder zum Baden an den Kulkwitzer See – Jeder See hat seine eigene Charakteristik entwickelt und bietet Einheimischen wie Besuchern, Gross oder Klein ein viele tolle Sommerstunden, an denen man sich fast vorkommt als sei man in den Süden gereist. Im Sommer nutzen die Städter jede Gelegenheit, um zum See zu radeln, denn die zwanzig grösseren Seen eignen sich perfekt für eine kurze Auszeit oder auch längeren Urlaub am Wasser! Wen es nach Action verlangt für den steht der Kanupark am Markkleeberger See offen. Er ist eine der modernsten Wildwasseranlagen in Europa – technisch vergleichbar mit den Olympiastrecken in Sydney, London und Rio de Janeiro. Er wurde im Zuge der Leipziger Bewerbung für die Olympischen Spiele 2012 geplant.
Epilog: Für mein Studium zog ich Anfang der 90er Jahre nach Berlin. Ich habe es geliebt. Vor dreizehn Jahren habe ich die Stadt verlassen. Berlin hat sich zu sehr geputzt und dadurch vieles von ihrem Charme verloren. Der Hackesche Markt an den ich über Baustellenbretter zu nicht angemeldeten Kellerbar-Partys balancierte ist heuet nicht viel mehr als ein herausgeputzter Touristenanziehungspunkt, der genauso gut in Düsseldorf beheimatet sein könnte. Die Stadt hat vieles von ihrem einzigartigen Charakter weggeschminkt. In Leipzig findet man jedoch noch dieses einzigartige Flair. Was wahrscheinlich daran liegt, dass alles was in Leipzig wurde, von seinen Bürgern geschaffen wurde. Nie hatten Kaiser, Könige oder die Kirche ihre Finger im Spiel. Entstanden ist eine kreative Metropole mit Ecken und Kanten, mit vielen Gesichtern und jeder Menge Freiraum. Kurz: Ein Stadt zum Verlieben. Wo sonst begegnet man Slogans wie mit «Prosecco gegen Nazis» oder sieht Punks die auf ausgedienten Sofas im Park sitzen, Bionade trinken, dabei Klassik hören und mit dem Rentner aus dem Plagwitz Kiez über das letzte Gewandhaus Konzert debattieren. Wer heute in Leipzig wohnt kann sich also glücklich schätzen. Wer nicht zu den Auserwählten gehört, sollte die Stadt wenigstens für ein verlängertes Wochenende vorbeischauen, denn hier gibt es sie noch eine authentische Kreativität-Szene jenseits des aufgesetzten Hipstertums.