66 Prozent aller Eisbären dieser Welt leben in Kanada. Die kanadische Provinz Manitoba ist das Mekka der Eisbärenbeobachtung. In Churchill an der Hudson Bay kann man den König des Nordens aus nächster Nähe in seiner natürlichen Umgebung erleben.

Die kanadische Provinz Manitoba liegt im Nordosten Kanadas an der Hudson Bay. Im Norden Manitobas ist Churchill die einzige grössere Siedlung. Die abgeschiedene Enklave befindet sich 1.700 Kilometer von Winnipeg entfernt. Wer hier hin will, muss den Flieger nehmen. Wer mehr Zeit hat, kommt mit dem Getreidezug oder reist – je nach Jahreszeit – mit dem Schiff an. Vier Seetage entfernt liegt das grönländische Nuuk. Vier Tage nur Wasser, mit häufig hohem Seegang und viel Wind. Ausser kleinere Expeditionsschiffe verirrt sich kaum je ein Cruiseliner in diese Abgeschiedenheit.

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Eisbärenalarm am Ende der Zivilisation
Zur Zeit des Kalten Krieges war Churchill ein wichtiger Militärstützpunkt. 4.000 Menschen lebten damals in der Stadt. Circa tausend Seelen zählt das Hafenstädtchen am Ende der Welt heute. Mächtige Getreidesilos streben dem Himmel entgegen, denn hier endet die in Winnipeg beginnende Eisenbahnstrecke, auf der jährlich 250.000 Tonnen des in den Prärieprovinzen Kanadas angebauten Getreides umgeschlagen und verschifft werden. Eine Verbindungsstrasse existiert nicht. Im Sommer zeigt das Thermometer bis zu 16 Grad an. Im Winter auch gerne mal doppelt so viel, allerdings im Minusbereich. Die Stadt am Rande der Arktis nennt sich selbst Eisbären-Hauptstadt, und das aus gutem Grund.

Eisige Stürme fegen über die Tundra. Sie sind die Vorboten des nahen Winters. Mit Ende des Polarsommers beginnt die grosse Kälte. Die eisige Zeit lässt Eisbären aktiv werden. Den ganzen Sommer über haben sie herumgelungert, denn wenn im Frühsommer das Eis in Kanada schmilzt, müssen die Bären die Jagd auf Robben, ihre Leibspeise, einstellen. Sie kommen an Land und ruhen sich für den nächsten Winter aus. Während dieser Zeit nehmen sie kaum Nahrung auf, sondern leben von ihren Fettreserven. Anfang Oktober sind diese aufgebraucht und die weissen Gesellen gehen wieder auf Nahrungssuche. Dann warten die Polarbären an der Küste auf das Zufrieren der Hudson Bay, ihrem natürlichen Jagdrevier.

Auf Bären-Patrouille

Den ganzen Sommer haben die Eisbären fast nichts gefressen, entsprechend gross ist der Hunger. In Churchill beginnt im Herbst eine der gefährlichsten Zeiten, denn nun gehört es zur Tagesordnung, dass ein hungriger Bär auch mal durch die Stadt trottet. Kinder verlassen nicht mehr alleine das Haus und auch Erwachsene sind ständig auf der Hut. Besonders am Strand herrscht die höchste Stufe des Eisbären-Alarms. Von Spaziergängen wird nun dringend abgeraten – trotz des Bärengefängnisses für besonders vorwitzige Eisbären, der Eisbären-Patrouille und den vielen Bärenlebendfallen. Aber in Churchill hat man sich an die Eisbärensaison gewöhnt und darauf eingestellt. Türen von Autos dürfen beispielsweise nicht abgeschlossen werden, damit im Notfall immer ein sicherer Unterschlupf vorhanden ist. Was für die Bewohner von Churchill zum alltäglichen Leben gehört, ist für andere ein grosser Traum. Einmal im Leben Eisbären in freier Wildbahn zu sehen, dafür reist so manch einer um die halbe Welt. Eine 100-prozentige Garantie gibt es nie, doch von Mitte Oktober bis Mitte November kann man mit den riesigen Tundra Buggys Eisbär-Safaris auf der gefrorenen Hudson Bay unternehmen. Die hochbeinigen Geländebusse Marke Eigenbau eignen sich optimal zur gefahrenlosen Eisbärenbeobachtung. Nur dank dieser Fahrzeuge kann man unbeschadet auf Tuchfühlung mit den Königen der Arktis gehen. Manche Bären kommen sehr nah an die Buggys, um sie zu beschnuppern, denn Eisbären sehen zwar schlecht, riechen dafür umso besser. Fast immer sind es die jungen, die etwa fünf bis sechsjährigen Eisbären, die besonders vorwitzig sind und ihre schwarzen Nasen sogar an die Fensterscheiben drücken. Nirgends auf der Welt kann man den weissen Riesen so nahe kommen – ein einmaliges und atemberaubendes Erlebnis.

Auge in Auge mit den Belugas
Doch es gibt noch andere Tiere zu beobachten. In der Hudson Bay leben circa 25.000 Belugas, auch Weisswale genannt. Einige von ihnen (um die 3.000) ziehen jeden Sommer (von Mitte Juni bis Mitte August) bis hinunter nach Churchill. Im arktischen Sommer finden sie hier einen idealen, fischreichen Futterplatz. Sie leben mit ihrem Nachwuchs in Familienverbänden und sind Teil einer Schule von manchmal mehreren hundert Tieren. Mithilfe von Zodiacs kommt man ihnen ganz nah, denn Belugas sind von Natur aus recht neugierige Tiere. Voraus, achteraus, an Backbord, an Steuerbord und sogar unter den Booten sind sie zu sehen. Wasserfontänen schiessen in die Höhe. Man kann ihr Blasen, sogar ihr Pfeifen hören. Eine ganze Schule, Hunderte an der Zahl, halten sich in Familienverbänden im Mündungsbereich des Churchill River auf und tummeln sich um die Schlauchboote. Sie kommen immer näher, werden zutraulicher und strecken senkrecht Kopf und Oberkörper aus dem Wasser, um die komischen Gestalten im Boot neugierig aus ihren winzigen Äuglein zu betrachten. Die Weisswale sind äusserst sympathisch, da sie Lippen und Kopf frei bewegen können und damit viel Mimik erzeugen. Immer wieder tauchen schneeweisse Mütter mit ihren noch grau gefärbten Jungtieren auf. Die Weibchen leben mit ihnen zusammen, die Männchen hingegen von ihnen getrennt. Die weisse Farbe dient der Tarnung, da diese Wale vorwiegend am Rande des Packeises leben.

Die Kanarienvögel der Meere
Jede Mutter hat ihren eigenen Pfiff, an dem sie von ihrem Jungen erkannt wird. Mithilfe eines Unterwasser-Mikrofons kann man an der Konversation der Belugas teilnehmen. Der Walgesang unter den Booten ist einem Sphärengesang ähnlich. Man wird des Zuhörens nicht müde! Die Belugas werden deshalb auch Kanarienvögel der Meere genannt, da sie über ein grosses Repertoire an Tönen verfügen. Sie pfeifen, quietschen, brummen, singen. Ein unvergessliches Erlebnis. Die kanadische Arktis gehört zwar zu den abgelegensten und damit auch kostspieligsten Zielen für Whale Watching überhaupt, dafür kann man hier zwischen Mai und September mit sehr grosser Sicherheit Wale sehen, allen voran Grönlandwale und Belugas. Wer die mystischen Einhörner der Meere, die Narwale, sehen will, muss sich bis an die arktische Eisgrenze wagen. Kein Wal lebt weiter nördlich als der Narwal, am liebsten hält er sich direkt an der Packeisgrenze auf, und selbst im Sommer findet man ihn nur selten südlicher als 70 Grad Nord.

Fazit: Man muss aufpassen, dass man dem Reiz dieser Region nicht erliegt, denn das Suchtpotenzial ist einfach enorm hoch. Das Gefühl von Unabhängigkeit und Freiheit in einer noch intakten Natur, ist, was die Faszination dieser Gegend ausmacht. Wo sonst kann man wilde Tiere so hautnah erleben? Bleibt zu hoffen, dass vor allem die Eisbären noch lange an der Hudson Bay zu sehen sind. Forscher beobachten bereits, dass die Tiere bedeutend magerer geworden sind – eine Folge des Klimawandels. Die Sommer werden immer länger und die Jagdzeit der Bären immer kürzer. Die globale Erwärmung zeigt drastische Konsequenzen, vor allem für die Eisbären.