Man kann eine Städtereise buchen, einen Reiseführer kaufen und dem Herdentrieb folgend auf den bekannten touristischen Trampelpfaden wandeln. Oder man setzt sich ein thematisches Ziel, wie man eine Stadt und ihren Charakter intensiv kennenlernen möchte. Beispielsweise, indem man recherchiert, welche Produkte für diesen Ort typisch sind.
Text: Regula Zellweger / Blog: Alt werden kann ich später …
Statt Kirchen und Museen zu besuchen und mittels Baudenkmälern mehr über die Geschichte zu erfahren, kann man Menschen kennenlernen, die auch heute noch für die Stadt typische Produkte herstellen. So wird eine Stadt lebendig und beginnt Geschichten zu erzählen, von ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In Marseille kann man dies besonders gut, denn die Marseiller sind stolz auf ihre Seife, ihre Santons und Navettes, ihren Pastis und ihre Bouillabaisse.

Schmelztiegel der Kulturen
Marseille schrieb als militärisch und wirtschaftlich bedeutender Mittelmeerhafen von der Antike bis zu den beiden Weltkriegen die Weltgeschichte mit. Die Hafenstadt spielte in den individuellen Biografien von Seeleuten und Flüchtlingen, aber auch Künstlern und Schriftstellern eine wichtige Rolle. Der Autor Joseph Roth bemerkte bereits im Jahre 1925: «Marseille ist New York und Singapur. Hamburg und Kalkutta. Alexandria und Port Arthur. San Francisco und Odessa. In Marseille erzeugt man Zucker, Stearin, Seife, Chemikalien. In acht Stunden macht der Schneider einen Anzug fertig. In 24 Stunden ist das Gesicht der Stadt verändert. Das Boot der armen Fischer liegt neben dem grossen Ozeandampfer. Muscheln liegen neben der Auslage der Brillantenhändler. Jede Stunde läuft ein Schiff ein. Jede zehnte Welle spült Fremde an Land wie Fische.» Schon seit Urzeiten war Marseille ein Ort, an dem Menschen vieler Kulturen aufeinandertrafen. Sie brachten ihre Träume, ihr Wissen und Können mit.

Ein Beispiel ist Félix Rofritsch. Der Name klingt nicht besonders französisch, ist er aber. Er wurde im Elsass, das seit 1871 in deutschen Händen war, geboren. Da er kein Deutscher sein wollte, zog es ihn in die pulsierende Mittelmeerstadt Marseille. Hier verkaufte er in einem Laden alles, was man damals «Artikel aus Paris» nannte. Und er bot auch einen Gegenstand an, der hundert Jahre später unabdingbar zur Kultur von Marseille gehören sollte: Boulekugeln. Seit 1904 stellte er der Tradition gemäss genagelte Holzkugeln her.
«Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen. Seine Schönheit lässt sich nicht fotografieren. Sie teilt sich mit.»
(JEAN-CLAUDE IZZO, IN «MARSEILLE TRILOGIE»)
La Boule Bleue
Wer die kleine Fabrik in einem Aussenquartier von Marseille besucht, glaubt zuerst, es handle sich um eine Garage. Hervé Rofritsch führt das Unternehmen «La Boule Bleue» seit 1994 in vierter Generation. Den Namen hat das Unternehmen vom blau schimmernden Kohlenstoffstahl. Hervé Rofritsch produziert mit Leidenschaft die Rolls Royce unter den Boulekugeln, jährlich 45’000 Kugeln, und deckt damit zehn Prozent des Marktes ab. La-Boule-Bleue-Kugeln dürfen das Label «EPV» tragen: Entreprise du Patrimoine Vivant. Es duftet wie in einer Metallwerkstatt und nach Farbe. Mit Stolz zeigt Hervé Rofritsch den Hochofen, wo die Kugeln gehärtet werden, und erklärt den Produktionsprozess, der jeweils von Montag bis Donnerstag abläuft. Er bezieht als Rohlinge halbe Stahlkugeln. Diese werden zusammengefügt, auf das gewünschte Gewicht heruntergeschliffen und mit Rillen und Prägungen explizit für den zukünftigen Besitzer durch eingestanzte Namen oder Initialen «massgeschneidert». Danach werden die Kugeln im Hochofen gehärtet – wie genau, das ist ein Betriebsgeheimnis.



Handwerkskunst im «Panier»
Im ältesten Viertel von Marseille, dem Panier-Quartier, findet man nicht nur «La Maison de la Boule», sondern auch Seifenshops, Santonniers, Bäckereien mit den traditionellen Navettes und unten am Hafen «La Maison du Pastis» und das Restaurant «Le Miramar», in dem man die beste Bouillabaisse bekommt. Das Maison de la Boule sticht leuchtend blau aus den grauen Fassaden der Altstadthäuser hervor. Hier kann man alles rund ums Boulespiel kaufen – von der Edelkugel bis zur bunten Zielkugel, sowie auf einer eigenen Bahn Probe spielen. Zudem erzählen alte Fotos und Pokale von Siegen in vergangenen Zeiten.


Fest verwurzelt ist im Panier-Quartier auch die Santonswerkstatt «Atelier Arterra». Hier werden Santons traditionsgemäss aus Ton hergestellt. Die Bezeichnung kommt vom provenzalischen Wort «Santoun», was «meine kleine Heilige» bedeutet. Die für Marseille typischen Krippenfiguren gibt es vorwiegend in drei Grössen, die kleinsten sind ein bis drei Zentimeter hoch. Ein traditioneller «Santon» hat Daumenlänge. Die grössten Figuren, die oft auch textil bekleidet sind, erreichen 18 bis 20 Zentimeter. Die Tonfiguren werden nach einem genau festgelegten Verfahren bemalt. Zuerst werden die hellen Farben aufgetragen, dann die dunklen, und dies von oben nach unten. Im Atelier Arterra legt man grossen Wert auf die «Bewegung» der Figuren, damit sie nicht statisch wirken. So werden die Augen der Figuren minuziös mit mindestens drei Farben für Iris, Pupille sowie das Weisse des Auges und den weissen Lichtpunkt im Auge gemalt, und die Figuren müssen klar in eine erkennbare Richtung schauen. Das Ergebnis ist ein lebendig wirkendes Dorf mit Menschen verschiedenster Professionen und Tieren aller Art rund um die eigentliche Krippe.



Die Spirituose aus Anis
Am Alten Hafen, zu Füssen des Panier-Quartiers, findet man «La Maison du Pastis». Wenn man Glück hat, ist Gérant Frédéric Bernard vor Ort. Er weiss alles über Pastis und versteht seinen Laden als Treffpunkt für kreative Pastis-Fans. Mehr als 75 verschiedene Pastis und Absinthe warten hier auf interessierte Kunden, die im Pastis nicht nur ein Getränk sehen, sondern einen Teil der französischen Lebenskunst.

La Maison du Pastis bietet im Offenverkauf vier verschiedene Sorten Pastis an, die rein mit natürlichen Aromastoffen – und nicht mit chemischen Produkten – hergestellt sind. In der Mitte des vorletzten Jahrhunderts kam der in der Schweiz erfundene Absinth, die grüne Fee, in Verruf und wurde strikt verboten. Infolgedessen wurden neue anisierte Alkoholgetränke ohne die Wermut-Pflanze entwickelt. Im Jahr 1932 schuf der junge Paul Ricard einen neuen Typus, indem er Lakritze beigab – mit «Lakritze» wird der Wurzelextrakt des echten Süssholzes bezeichnet. Dieses Getränk wurde mit dem Slogan «Le vrai Pastis de Marseille» vertrieben und damit war der Begriff Pastis für diese Art Getränke geboren. Ein echter Pastis muss also immer Lakritze und Anis enthalten. Pastis wird vermischt mit eiskaltem Wasser genossen, vorzugsweise stillem Mineralwasser.

Der grösste Unterschied zwischen Absinth und Pastis besteht im Geschmack. Während Absinth durch den Wermuth bitter wirkt, ist der Pastis durch blumigere Noten gekennzeichnet. Pastis ist gezuckert, Absinth nicht. Im Gegensatz zu Absinth wird Pastis nicht durch Destillation, sondern durch Mazeration, also durch Aufweichen der Zutaten in Flüssigkeit, hergestellt. Absinth weist mit 53 bis 89 Prozent einen deutlich höheren Alkoholgehalt als Pastis mit weniger als 45 Prozent auf.
Haushaltwaren-Paradies
«La Maison Empereur» ist eine Haushalts- und Eisenwarenhandlung, wie man sie auch bei uns früher kannte. Ein Himmel voller Pfannen, Siebe und Körbe! Hier findet man alles, was die Herzen der Marseiller Hausfrauen höherschlagen lässt – Vintage-Feeling inklusive. Die Franzosen kochen nicht nur hervorragend, sie haben auch exzellente Qualität bei den Küchengeräten und -textilien. Und so führt der Laden zudem unermesslich viele Reinigungsmittel wie zum Beispiel die bekannte schwarze Seife sowie Bürsten, Besen, Tortenschaufeln, Aschenbecher, Kinderspielzeug und Duschhauben … Hier kann man Stunden verbringen und kommt bestimmt nicht mit leeren Taschen heraus.

Wer Marseille anhand von typischen Produkten erlebt, wird nicht nur visuell, sondern auch olfaktorisch gesättigt werden. Denn traditionelle Dinge, die in Marseille produziert, konsumiert oder verkauft werden, sind zugleich ein Augenschmaus und eine Duftorgie. In der Nase bleiben die Düfte von Fisch und Meer, von frischen Navettes, vom weichen Ton und den Farben der Santons, von Bohnerwachs über Seife bis zu Gewürzen und Kräutern. Ja, Marseille lässt sich mit allen Sinnen entdecken, vor allem abseits der Touristenmassen. Eine Stadt, die nicht immer schön, aber stets spannend, überraschend, voller Vitalität und Dynamik ist. Kurz: eine Stadt für Entdecker und alle, die gerne Neues wagen.