Geht man als Besucher durch das Eingangstor, betritt man eine andere Welt. Eine Welt, die zur Stille und zum Nachdenken einlädt. Auf vielen Friedhöfen erzählen die Grabsteine Geschichten von Menschen.

Der Tod hat immer das letzte Wort. Er ist die Ur-Sicherheit des Lebens, an der nichts und niemand etwas ändern kann. Und so zeigen Friedhöfe das Offensichtliche, die Endlichkeit des menschlichen Daseins. Was nach dem Tod kommt und ob etwas kommt weiss niemand. Was vor dem Tod war, davon erzählen die Grabsteine – geschmückt und bestückt mit Figuren, Symbolen und Jahreszahlen.
Keine Angst vor den Toten
Meine ersten Erinnerungen gehen zurück auf den Alten Iserlohner Friedhof am Rande des Sauerlandes. Hierhin bin ich als Kind schon von der Oma und der Mutter mitgenommen worden, zur Grabpflege, den toten Opa besuchen und zum Giessen. Den Weg zum Grab würde ich noch heute mit geschlossenen Augen finden, hätte man die alten Gräber inzwischen nicht längst entfernt. Vorbei am Grabstein des lustigen Wandersmanns und an einem frischen Grab mit Kränzen – von denen einer die Schleife mit der Aufschrift «Tschüss Paul» trägt, daneben die Bank, auf der die alte Frau Selle ihre Brotzeit einnimmt und Zwiesprache mit ihrem vor vielen Jahren verstorbenen Mann hält. Und während Oma und Mutter neue Stiefmütterchen oder Erika aufs Grab pflanzen, stibitze ich die glitzernden Steine vom Nachbar-Grab. Einer der schönsten Tage im Jahr war Allerheiligen, dann pilgerte die ganze Familie in der frühen Dämmerung zum Friedhof, um Lämpchen anzuzünden. Mein Cousin und ich rannten mit Taschenlampen zwischen den Gräbern umher und freuten uns über die roten Kerzen auf den Ruhestätten. Angst hatten wir nie, denn schon früh impfte uns die Oma ein: «Vor den Toten muss man keine Angst haben, lebendige Menschen können viel gefährlicher sein.». Nur eine Geschichte liess uns stets erschaudern, die der schwarzen Hand. Die Legende besagt, dass ein junges Mädchen im Zorn nach ihrer Mutter geschlagen hat. Bald darauf sei das Mädchen gestorben und auf einem Friedhof im Sauerland beerdigt worden. Am folgenden Morgen ragte die rechte Hand des Kindes aus dem Grab. Sie wurde wieder unter die Erde gedrückt, doch auch am folgenden Tag ebenso wie am übernächsten Tag sei die Hand erneut aus dem Grab erschienen. Da schnitt der Pfarrer die Hand, die mittlerweile ganz schwarz und trocken geworden war, ab und stellte sie in der Kirche als sichtbares Zeichen und Mahnung für die Beachtung des vierten Gebotes aus. Noch heute wird die schwarze Hand im Turm der Pfarrkirche zu Bödefeld aufbewahrt.
Gegenwärtig nehmen anonyme Urnenbestattung zu, aus Bequemlichkeit und Kostengründen. Dadurch verlieren viele neue Friedhöfe ihr Flair. Die alten Friedhöfe erzählen Geschichten; es ist als würden die Toten zu uns sprechen. Kriegsgräber erinnern vielerorts an den ersten und zweiten Weltkrieg, die mit Anker und Bildern verzierten Grabplatten an der Nordsee sprechen von Schiffsunglücken und die mit Teddybären und bunten Windrädern bestückten Gräber rufen uns ins Gedächtnis, dass der Tod für viele Menschen oft viel zu früh kommt. Ein jüdischer Friedhof hingegen ist immer auch die Erinnerung an die Millionen ermordeter Juden, an die, die nie ein Grab bekommen haben. Jedes Symbol auf jedem Grabstein hat seine Bedeutung, der Schmetterling zum Beispiel steht für die Flüchtigkeit des Lebens, Efeu steht für Freundschaft und Treue und der Anker ist ein Bild der Hoffnung. Und so besuche ich Friedhöfe auf der ganzen Welt, um selbst in der hektischsten Metropole Ruhe zu finden und etwas über das Land und seine Geschichten zu erfahren.
Der Fröhliche Friedhof
Betonen die meisten Friedhöfe die Schwere des Todes und die Trauer, die er auslöst, so bekommt man auf einem Friedhof in Maramures (Rumänien) ganz andere Vorstellungen vom Tod. Auf dem Fröhlichen Friedhof geht man davon aus, dass die Seele unsterblich ist und der Tod nur in ein besseres Leben im Jenseits führt. Die Angehörigen schmücken daher die Familiengräber mit geschnitzten Kreuzen, auf denen die Lebensgeschichte der Verstorbenen in bunten Bildern nacherzählt wird. Über 800 bunte Kreuze verwandeln diesen Ort in eine historische Enzyklopädie eines ganzen Dorfes – der Friedhof als Dorfchronik. Sie gibt Auskunft über den Mann, der sich frühzeitig zu Tode gesoffen hat oder die Frau, die ihren Gatten mit dem Nachbarn betrog. Jedes Kreuz zeigt ein geschnitztes Bild im oberen Teil, das einen wichtigen Moment im Leben des Verstorbenen darstellt. Darunter beschreiben kurze Gedichte oder gereimte, humorvolle Texte in der Volkssprache und in der ersten Person, das Leben desjenigen, der dort begraben liegt: was war er von Beruf, welches Schicksal hat er erlitten, unter welchen Umständen starb er.
Karl Marx letzte Ruhestätte
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Bevölkerungszahl Londons von 1 Million auf über 2,3 Millionen angestiegen. Diese hohe Bevölkerungsdichte zusammen mit der hohen Sterblichkeitsrate führte zu katastrophalen hygienischen Zuständen in der Hauptstadt, da nicht mehr ausreichend Platz für die Bestattung der Toten vorhanden war. Zwischen Läden, Häusern und auch Kneipen entstanden kleine Gräberfelder, auf denen die Toten häufig nicht tief genug begraben wurden. Der Gestank nahe dieser Totenfelder war furchtbar und führte letztendlich zur Einrichtung neuer Friedhöfe ausserhalb der Stadt, darunter der 1839 eröffnete Highgate Cemetery. Mit seiner ungewöhnlichen Architektur und dem Blick über London zog die Anlage reiche Investoren an. So wurden zwei Kapellen im Tudorstil gebaut und Katakomben im gotischen Stil. Die Mischung aus englischem Park und Friedhof mit Monumenten, die das viktorianische London widerspiegeln, macht den besonderen Reiz aus. Heute beherbergt der Friedhof über 53.000 Gräber auf einer Fläche von 15 Hektar. Unter ihnen das von Karl Marx. Ausserdem können die Ruhestätten des Autors Douglas Adams («Per Anhalter durch die Galaxis») oder des Experimentalphysikers Michael Faraday besucht werden. Auch das mögliche Vorbild für Sherlock Holmes Widersacher Professor Moriarty, der deutsch-amerikanische Kriminelle Adam Worth, liegt hier begraben. Neuester prominenter Zugang ist der Sänger George Michael.
Tote in der Stadt der Liebe
Zur Eröffnung im Jahre 1804 wurde er aufgrund seiner Lage als nicht attraktiv angesehen, heute gibt es für den Friedhof Père Lachaise eine lange Warteliste. Der 44 Hektar grosse Parkfriedhof im 20ten Arrondissement von Paris ist wegen seiner architektonischen Besonderheiten, der Grabsteine und natürlich aufgrund der Grabstätten berühmter Persönlichkeiten so beliebt. Hier ruhen Frédéric Chopin, Édith Piaf und Marcel Marceau. Der Park ist ein Wallfahrtsort für Fans der Band «The Doors»: das Grab von Sänger Jim Morrison ist wohl das meistbesuchte der 70.000 Gräber. Es wird durch einen Zaun geschützt, da die Büste des Musikers in den letzten Jahren mehrfach gestohlen wurde. Statt Blumen legen Fans an seinem Grab häufig Schallplatten nieder. Nicht weniger beliebt ist die Ruhestätte von Oscar Wilde, dem Autor des Buches «Das Bildnis des Dorian Gray». Sein Grab war lange Zeit mit tausenden Lippenstift-Küssen verziert. Seit acht Jahren ist es jedoch durch eine Glasplatte geschützt. Jetzt hinterlassen seine Verehrer und Verehrerinnen einen Lippenstift-Abdruck auf der Glaswand.
Ebenfalls in Paris befindet sich der Cimetière Montparnasse. Besucher finden hier unter anderem die Gräber des Dichters Charles Baudelaire, der Schriftstellerin Marguerite Duras, des irischen Autors Samuel Beckett sowie das von Man Ray. In einer gemeinsamen Ruhestätte sind Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir vereint. Das Grab des Sängers Serge Gainsbourg schmücken Fans regelmässig mit Stofftieren und Blumen. Auf dem gut 19 Hektar grossen Friedhof kann man leicht einen ganzen Tag verbringen.
Wien, Wien nur Du allein…
Während sich in Paris also die Fans von Jim Morrison und Serge Gainsbourg versammeln, zieht es Klassikliebhaber eher nach Wien: Auf dem Zentralfriedhof sind Komponisten wie Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Franz Schubert und Johann Strauss bestattet. Mit einer Fläche von 2,5 Quadratkilometern und rund 330.000 Gräbern zählt er zu den grössten Friedhöfen Europas. 1874 eröffnet mauserte er sich schon bald zu einem beliebten Bestattungsort. Prominente wie Paul Hörbiger, Curd Jürgens, Hans Moser, Robert Stolz, Theo Lingen und Falco liegen hier in illustrer Runde. Neben Katholiken finden in den verschiedenen Bereichen auch Juden, Orthodoxe sowie evangelische Christen, Muslime und Buddhisten ihre letzte Ruhe. Und weil in Wien der Tod zum Leben gehört, wurden Begräbnisse unter dem Motto «a schöne Leich» zelebriert. Nicht zuletzt deshalb sind die Friedhöfe nicht einfach nur Grabanlagen, sondern wundervolle Parks. Und so wundert es nicht, dass im Frühjahr 2015 die Urne des Sängers, Pianisten und Komponisten Udo Jürgens, verborgen in einem weissen Marmor-Konzertflügel, hier ihren letzten Ruheplatz bekommen hat.
Im 11. Wiener Bezirk, wo sich der Donaukanal und die Neue Donau vereinen, sieht es ganz anders aus. Hier liegt der Friedhof der Namenlosen. Ein Stück Land, auf dem einst all die Toten begraben wurden, bei denen man nicht wusste wohin. Unbekannte, die irgendwo mehr oder weniger unfreiwillig aus dem Leben schieden oder von der Donau angespült wurden. 1840 fand hier die erste Beisetzung einer unbekannten Wasserleiche aus der Donau statt. Da vielen Selbstmördern kein ehrwürdiger Platz auf den konfessionellen Friedhöfen gestattet wurde, fanden sie hier ihre letzte Ruhestätte. Besonders häufig wird «der Sepperl» besucht, eine Kinderleiche mit schauerlichem Schicksal. Der kleine Junge wurde in einem Schuhkarton am Ufer der Donau gefunden. Sein Grabstein ist am prunkvollsten verziert.
Luxusgräber in Buenos Aires
Dass Sterben nicht billig ist, ist nichts Neues. Besonders tief in die Tasche greifen muss jedoch wer in Buenos Aires auf dem Friedhof La Recoleta seine letzte Ruhestätte beziehen möchte. Der Friedhof in einem der teuersten Viertel von Buenos Aires pflegt eine etwas andere Tradition als die europäischen Friedhöfe: Er beherbergt fast ausschliesslich beeindruckende Mausoleen, die in Reihen angeordnet sind. Die Mausoleen demonstrieren den Reichtum und die Stellung der dort begrabenen Personen. Sie sind Denkmäler für die Ewigkeit. Alle der über 4.600 Begräbnisstätten sind oberirdisch. Zirka Hundert stehen bereits unter Denkmalschutz. Der Friedhof birgt einige Kuriositäten, wie zum Beispiel viele Katzen, die sich am Abend vor dem Friedhofseingang treffen und darauf warten, dass die Besucher sie mit Futter versorgen. Eine regelrechte Pilgerstätte ist die Gruft der Familie Duarte und somit der argentinischen Nationalheldin Evita Perón. Die schönste Grabstätte gehört jedoch Rufina Cambaceres, einem jungen Mädchen, das 1902 zur aristokratischen High Society von Buenos Aires gehörte. Eines Abends bricht sie plötzlich zusammen und wird vom herbeieilenden Arzt für tot erklärt. Wie bei reichen Familien üblich, wurde sie kurze Zeit später in einer kunstvoll gestalteten Gruft beigesetzt. Nach einigen Tage fand der Friedhofswärter jedoch den Deckel des Grabes leicht verschoben vor. Man öffnete das Grab und fand etwas noch Schrecklicheres: die tote Rufina mit zerschundenen Händen. Man hatte sie lebend beigesetzt.
Grabstätten sind etwas Besonderes, vor allem für Hinterbliebene. Sie sind ein Ort, an dem Tote ihre letzte Ruhe finden und Angehörige trauern, aber auch den Toten gedenken können. Daher wird seit vielen Jahrhunderten von vielen unterschiedlichen Kulturen und Religionen die Bestattungskultur sehr intensiv gepflegt. Und so unterliege auch ich immer wieder dem Zauber der Vergänglichkeit.