Englisches Essen litt jahrelang unter einem schlechten Ruf: fade, langweilig und totgekocht. Jahrzehntelange kulinarische Trostlosigkeit. Wir essen uns durch London und stellen fest: Britisches Essen ist zwar traditionell, kann aber oftmals auch einfach richtig gut sein.

Einst geschätzt und bewundert galt die britische Küche lange Zeit als Inbegriff des schlechten Essens. In den letzten Jahren erlebt «British Food» jedoch einen regelrechten Boom. Gutes Essen hat immer etwas damit zu tun, dass man sich wohlfühlt. Und die britische Küche vermittelt ein heimeliges Gefühl.

 A Pie to die for
Ein typisch Londoner Essen ist zum Beispiel «Pie and Mash» – ein Gericht aus Rinderhack in Blätterteig mit Kartoffelpüree und einer «Liquor» genannten Petersiliensauce. Es ist das ultimative Arbeiteressen: An einem kalten Winterabend wärmt es und wenn man sich etwas Gutes gönnen möchte ist es auch genau das richtige. Das Essen ist sehr reichhaltig, eine Portion reicht in der Regel, um jegliches Hungergefühl für geraume Zeit abzutöten. Kein grosses optisches Vergnügen aber lecker und nahrhaft. Bereits die Römer brachten das Prinzip der Pie (Pastete) mit auf die Insel, als sie um 43 n. Chr. einmarschierten. Von da an entwickelten die Briten eine eigene Pie-Kultur und kreierten mit viel Erfindungsgabe aus preiswerten Fleischstücken eindrucksvolle und sättigende Gerichte.

Die Brüder Jeff und Kain Goddards führen in fünfter Generation das seit 1890 existierende Lokal «Goddards at Greenwich». Restaurantführer Jeff erklärt uns die Pie-Faszination folgendermassen: «Für jeden echten Londoner symbolisiert ein Pie and Mash den Herzschlag der Stadt. Die Hafenarbeiter sind damit gross geworden. Im 19. Jahrhundert verkauften fliegende Händler die Fleischpasteten. Im 20. Jahrhundert wurde der Strassenhandel durch sogenannte «Eel & Pie Houses», kleine Restaurants, ersetzt. Damals wurde noch Aal als Beilage zur Fleischpastete gereicht – quasi das erste Surf & Turf Gericht.» Über hundert Jahre später gehört «Pie and Mash» noch immer zu den Grundnahrungsmitteln der Londoner und bei den Goddards werden die Pasteten weiterhin auf ganz traditionelle Weise hergestellt. Naja, auf fast traditionelle Weise, denn der Pie wurde ursprünglich mit «Eel-Liquor», einer Sosse, die aus dem Kochwasser der Aale gemacht wurde, serviert. Heutzutage ist kein Aal mehr im Sud, sondern man serviert den Pie mit einer einfachen Petersiliensosse.

Englischer Sonntagsbraten
Wenn es um typische britische Küche geht, darf  der Sonntagsbraten nicht fehlen. Der englische «Sunday Roast» ist Kult. Einen der besten bekommt man im Restaurant «roast» im Borough Market – einem der ältesten Lebensmittelmärkte Londons. Ein englischer Sonntagsbraten ist nicht nur ein Essen, sondern eine Lebenseinstellung. Küchenchefin Sarah Harding erklärt: «Der Sonntagsbraten erinnert an die gute, alte Zeit als vor dem gemeinsamen Kirchengang ein grosses Stück Fleisch in den Ofen geschoben wurde, das bei der Rückkehr gar war. Es erinnert an Zuhause und vermittelt ein heimatliches Gefühl – daher verzichten die meisten Briten nur ungern auf ihren Sonntagsbraten.» Im «roast» wird traditionell das Lendenstück für den Sonntagsbraten verwendet. Doch ein Sonntagsbraten ist kein richtiger Sonntagsbraten ohne Yorkshire Pudding, welcher mindestens genauso wichtig ist wie das Fleisch. Yorkshire Pudding ist ein Backwerk aus Mehl, Milch und Eiern. Traditionell wurde der Teig im Ofen unter dem Fleischgrill platziert, um den Bratensaft aufzufangen. Er war, wie die Küchenchefin erläutert, «eine gute Möglichkeit für die Arbeiterklasse viele hungrige Mäuler mit Proteinen zu versorgen.» Nichts desto trotz ist ein guter Yorkshire Pudding eine durchaus ernstzunehmende Angelegenheit. Im Restaurant «roast» wird diese Tradition hochgehalten, denn der Sonntagsbraten ist Teil der britischen Identität – ohne dieses Gericht würde im Land einfach etwas fehlen.

«Hausmannkost muss an Omas Strickjacke und ihr Rosen-Parfüm erinnern.»

Die britische Variante der Pommes frites
Den Gegensatz zum klassischen Familienessen bildet ein Imbiss, den man auf die Hand nimmt – nämlich «Fish and Chips». Viele Engländer sind mit diesem Gericht gross geworden und können sich gut daran erinnern, als die Portionen noch in Zeitungspapier eingewickelt wurden. Man ass seinen Fisch mit den Fingern im Gehen. Das heutige Nationalgericht kam mit jüdischen Immigranten im 19. Jahrhundert nach London. Wie eine diebische Elster hat Grossbritannien im Laufe seiner Geschichte immer und überall am Wegesrand neue Gerichte, Zutaten und Aromen aufgesammelt, um sie in seine Kultur zu integrieren.

Schnell stieg Fish ’n’ Chips zum Nationalgericht auf. Grundlage des Erfolgs waren kleine Familienbetriebe, die traditionell und oft unter lautstarkem Werben die verschiedensten Esswaren auf den Strassen Londons feilboten. Offiziell gilt der jüdische Immigrant Joseph Malin als Gründer des ersten Ladens für Fish ’n‘ Chips im Londoner East End im Jahre 1860. Nach amtlichen Schätzungen gab es 1910 bereits etwa 25.000 Läden im ganzen Königreich. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Fish and Chips so beliebt und wichtig für die nationale Identität, dass dieses Essen als einziges nicht rationiert wurde. Und auch heute noch ist es allseits beliebt. Vor dem Imbiss «Toff’s» in Muswell Hill bilden sich täglich lange Schlangen. Besitzer Costas Georgio verkauft hier seine extragrossen Fish and Chips Portionen und weiss worauf es beim Nationalgericht ankommt: «Das wichtigste ist, dass die Ware frisch ist. Schleimig bedeutet frisch und wenn man in den Fisch hineindrückt springt das Fleisch zurück. Jeden Tag müssen dafür Kabeljau, Seezunge, Schellfisch und Scholle frisch vom Kutter aus Nordengland geliefert werden.»

Welcome in Little India
London war einst Hauptstadt eines die Welt umspannenden Reiches und Indien war eines der Juwele dieses Imperiums. Daher findet man noch heute viele der weltweit besten indischen Restaurants in der englischen Metropole. Natürlich bekommt man hier auch das exotischste Lieblingsgericht der Briten: das Chicken Tikka Masala. Anders als angenommen handelt es sich hierbei nicht um ein altes indisches Gericht, sondern um eine Mischung aus englischen und indischen Einflüssen, die vor einem halben Jahrhundert von ausgewanderten nordindischen Köchen kreiert wurde. Der Besitzer des alteingesessenen Restaurants Punjab beschreibt das Gericht folgendermassen: ««Chicken Tikka» bedeutet übersetzt ein kleines Stück vom Huhn. Die kleinen Fleischstücke spielen eine wesentliche Rolle in der indischen Küche und die Engländer essen traditionell gerne Fleischgerichte mit Sosse.

Daher begann man in England Mitte des letzten Jahrhunderts in indischen Restaurants Hähnchenfleischstücke mit viel Sosse zu servieren.» Und so wird Chicken Tikka in Indien gewöhnlich nur mit Reis und indischem Brot serviert, in England hingegen wird es für das Sossen verrückte Volk mit Masala – einer speziellen Sosse – gereicht. Das Punjab im Covent Garden gibt es seit 1951 und ist auf die Küche der nordindischen Region spezialisiert, nach der es benannt ist. Sital leitet das Restaurant seit er es 1971 von seinem Grossvater übernommen hat. Er erklärt: «Es gibt kein bestimmtes Rezept für die Sosse, jedes Restaurant benutzt seine eigene vom Chefkoch kreierte Mischung.» Das Punjab gehört zu den besten indischen Restaurants der Stadt und alle lieben sein Chicken Tikka Masala. Ein Gericht, dass an die alte Empire Zeit erinnert.

 It’s Teatime
Vor allem eine Tradition verbinden Anglophile weltweit mit Great Britain – den Nachmittagstee. Der sogenannte High Tea wird jeden Nachmittag pünktlich um 15.30 Uhr serviert. Er ist eine der letzten grossen Bastionen des Britischen-Seins. Mister James Louise vom No. 11 Garden weiss: «Die Tradition des High Teas geht zurück auf das 19. Jahrhundert und wird Anna Maria Stanhope Duchess of Bedford zugeschrieben. Sie versuchte mit dem Nachmittagstee samt kleinem Snack die lange Durststrecke bis zum späten Abendessen um 21.00 Uhr zu überbrücken. Später wurde der High Tea mit Gebäck und kleinen Sandwiches zum sozialen Ritual.» Auch heute noch wird in London in allen klassischen Hotels der traditionelle Afternoon Tea serviert. James Louise führt uns in die Kunst der britischen Tea Time ein: «Beim Servieren des Tees sollte die Person, die der Kanne am nächsten sitzt, immer einschenken. Beim Trinken sollte man darauf achten nicht den kleinen Finger abzuspreizen und egal wie heiss der Tee ist, niemals schlürfen! Schlürfen ist ein absolutes Tabu». Üblicherweise beginnt man den Nachmittagstee mit ein paar Sandwiches – belegt mit Gurke, Räucherlachs oder Frischkäse – und geht später zu etwas Süssem über wie beispielsweise Scones und der typischen Biskuit-Torte Victoria, benannt nach Queen Victoria. Auch wenn Besuchern ausserhalb Grossbritanniens der Afternoon Tea etwas angestaubt vorkommen mag, ist die klassische Tea-Time-Tradition in London populär wie eh und je.

Ja, allen Lieblingsgerichten der Londoner ist gemein, dass man sie seit Generationen kennt. Ob schlichte Arbeiteressen in einem Pub oder eleganter Fingerfood im Nobelhotel – man wird davon nicht nur satt, sondern weiss auch sofort wo man sich befindet, denn so schmeckt nur London!