Auf der touristischen Landkarte ist Taiwan für viele Europäer noch immer ein weisser Fleck. Auch sonst ist hierzulande wenig über die Insel bekannt. Aktuell wurde zwar kurz darüber berichtet, dass das Land die Corona-Krise besser als viele andere Staaten gemeistert habe, aber sonst? Dabei bietet die kleine Insel – flächenmässig ist sie etwa so gross wie Baden-Württemberg, mit 24 Millionen Menschen aber viel dichter besiedelt – eine ausgezeichnete touristische Infrastruktur, spektakuläre Sehenswürdigkeiten, lebendige chinesische Traditionen und modernste Städte.
Text: Detlef Berg
Eine erste Überraschung gab es bereits bei der Einreise auf dem Flughafen in Taipeh: Neben den Passformalitäten wurde mit einer Wärmebildkamera auch unsere Körpertemperatur gemessen, um die Einführung von Infektionskrankheiten zu vermeiden. Das war Anfang Februar und von Corona hatten wir bis dahin nur wenig gehört. Nicht im Entferntesten dachten wir daran, das das Virus mit dem inzwischen omnipotenten Namen etwas mit uns zu tun haben könnte. Wir wunderten uns auch, dass vor dem Einchecken im Hotel schon wieder unsere Temperatur gemessen wurde. Beim geringsten Verdacht auf erhöhte Körpertemperatur folgen umgehend genaue medizinische Untersuchungen und gegebenenfalls Quarantänemassnahmen. Durch seine Nähe zur Volksrepublik China gilt Taiwan als Risikogebiet für Corona-Infektionen, doch die Regierung war gut vorbereitet und hat den Virus erfolgreich eingedämmt. Taiwan ist übrigens nicht Mitglied der Weltgesundheitsorganisation WHO, weil Peking das auf Grund seiner Ein-China-Politik verhindert. Die WHO sollte aber wissen, dass der Schlüssel zur erfolgreichen Bekämpfung einer globalen Pandemie gerade in einer engen Zusammenarbeit aller Länder liegt.
„Made in Taiwan“
Doch nicht nur im Gesundheitswesen ist Taiwan gut aufgestellt, auch die Wirtschaft brummt und „Made in Taiwan“ steht längst nicht mehr für billige Plastikprodukte, sondern innovative Hightech-Erzeugnisse. Sichtbarstes Zeichen der Wirtschaftskraft ist der im Jahre 2004 eröffnete 509 Meter hohe „Taipeh 101“. Er war damals das höchste Hochhaus der Welt, an dessen Spitze die Ingenieure eine 660 Tonnen schwere, frei bewegliche Stahlkugel aufgehängt haben, um den Turm bei Erdbeben zu stabilisieren. Seinen Namen „Taipeh 101“ verdankt der Turm der Zahl seiner Stockwerke. Ein Aufzug bringt uns in wenigen Sekunden zur Aussichtsplattform in die 89. Etage. Der Ausblick auf das Häusermeer ist atemberaubend. Informationstafeln geben Auskunft über die Architektur des Turms, die auch traditionelle Werte einbezieht. So orientiert sich die Bauhülle an einer sich nach oben verjüngenden Bambusstange, an den Ecken wachen Drachenköpfe und die Fassade ähnelt in ihrer Form alten chinesischen Münzen. „Taipeh 101“ ist ein typisches Sinnbild für ein Land, in dem Tradition und Moderne eng miteinander verbunden sind. Das zeigt sich auch im Basement – mitten in der modernen Shoppingmall befindet sich das Restaurant „Ting Tai Fung“. Eine Leuchttafel zeigt die aktuelle Wartezeit an – die Sitzplätze im Restaurant sind begehrt, schliesslich soll es hier die besten Dumplings der Stadt geben. Man kann den Köchen auf die Hände schauen. Unglaublich, wie flink sie in der verglasten Showküche Teigtaschen ausrollen, füllen und formen. Besonders die mit pikantem Schweinefleisch gefüllten Dumplings bleiben in Erinnerung und auch Nr. 53, überrascht mit saftigen Shrimps und Schweinefleisch. Ebenfalls zu empfehlen sind die kalten Vorspeisen wie das geschmorte MelazaniGemüse und die eingelegten Blätter vom Weisskraut.
Zwischen Räucherstäbchen und bösen Geistern
Wer noch jenes China kennenlernen will, das Graham Greene und Joseph Conrad beschrieben haben, kann auf dem Land, aber auch in engen Nebengassen Taipehs noch bunte Märkte, kleine geduckte Häuser, geschmückt mit blutroten Lampions, und lebendige Tempel entdecken. Da steht ein Heiligtum für den Stadtgott, gleich daneben ein Konfiziustempel und auch noch ein buddhistischer Tempel. Überall glimmen Räucherstäbchen für die Seelen der Vorfahren. Alte Männer und Frauen bringen Opfergaben wie Orangen, Bananen, Reis oder Kekse, aber auch junge Menschen im feinen Businessdress verneigen sich ehrfürchtig vor den weihrauchgeschwängerten Götterbildern. Auch Fremde sind willkommen, und Fotografieren – mit dem nötigen Respekt – ist kein Problem. „Einige Dinge müsst ihr aber beachten“, klärt uns Reiseleiterin Michelle Chiu auf. „Also, bitte nicht auf die Schwellen treten, sondern darübersteigen. Die Schwellen sollen böse Geister abhalten, und wer auf sie tritt, beschwört möglicherweise Unglück herauf.“ Die religiöse Toleranz erlaubt es uns Besuchern auch, einmal die Jiaobei auf den Boden zu werfen. Das sind halbmondförmige Hölzer mit einer flachen und einer abgerundeten Seite. „Ihr könnt Euch eine Frage an die Götter ausdenken und je nachdem, wie die Hölzer zum Liegen kommen, lautet die Antwort ja oder nein,“ sagt Michelle. „Landen beide auf der flachen Seite, lautet die Antwort nein – fallen beide auf die gerundete Seite, war die Frage nicht relevant. Für ein ja braucht es ein gemischtes Resultat.“
Kunst, Kunst, Kunst ….
Taipeh bietet aber noch mehr – die weltgrösste und bei weitem imposanteste Sammlung an chinesischen Kunstwerken. Über 720 000 Exponate aus 5 000 Jahren brachte Staatsgründer Chiang Kai Shek bei seiner Flucht vor Maos roten Truppen vom Festland mit, als er 1949 die „Republik China“ auf Taiwan gründete. Da jeweils nur etwa 15 000 Exponate gleichzeitig ausgestellt werden können, werden die Kunstwerke alle drei Monate gewechselt. Man bräuchte fast zwölf Jahre, um alle Stücke zu sehen. Die Künstler aus dem Reich der Mitte verzierten selbst Kirschkerne mit filigranen Schnitzereien, und aus einem einzigen Stück Elfenbein schnitzten sie 19, sich ineinander drehende Kugeln. Faszinierend! Jahrelang arbeiteten die Künstler an diesen Stücken, angespornt von der Hoffnung, ihr Lebenswerk möge für einige Augenblicke den Kaiser von China erfreuen und dem Meister Wohlstand zu bringen. Die bis heute anhaltende Verehrung Chiang Kai Sheks bescherte der Stadt ein Mausoleum, das zu den grössten der Welt gehört. In mehreren Stockwerken – auch unterirdisch – sind Zeitdokumente des Staatsgründers ausgestellt. „Nehmen Sie sich mal die Zeit, einige der Informationstafeln zu lesen“, fordert Michelle uns auf. „Sie stellen auch interessante Bezüge zur Weltpolitik her“. Umgeben ist der mächtige Marmorbau von einem schönen Park mit Teichen und Pavillons. Früh am Morgen versammeln sich hier viele Menschen zum Tai-Chi oder Schattenboxen.
Unterwegs auf Schienen
Am nächsten Morgen drängt Michelle zum Aufbruch. „Wir müssen unbedingt pünktlich sein, der Zug wartet nicht“. Und sie verteilt an alle wieder neue Gesichtsmasken. „Bitte aufsetzen!“ – lautet die kurze, aber bestimmte Anweisung. Im modernen, pieksauberen Bahnhof Main Station wären wir wirklich die einzigen Menschen ohne Maske gewesen. Alle Bahnsysteme von Taipeh treffen hier zusammen. Rolltreppen bringen uns zu den im Untergrund befindlichen Bahnsteigen. Unser Ziel ist Kaohsiung ganz im Süden der Insel. Auf den Tickets sind Waggon- und Sitzplatznummern aufgedruckt, und am Bahnsteig wiederum markieren Zeichen, wo welcher Wagen halten wird. Während der Zug in den Bahnhof rauscht, stehen alle schon ganz brav in der richtigen Schlange. Einsteigen und Platz nehmen gehen zügig, und kaum das wir sitzen, beschleunigt der Zug schon kraftvoll. Für die 352 Kilometer benötigt er genau 96 Minuten. Zugfahren in Taiwan ist effektiv, schnell, komfortabel und dabei auch noch günstig. Während der Fahrt rauschen draussen tropische Wälder und Reisfelder vorbei. Zumeist aber sind es mit Industrieanlagen und Wohnsiedlungen dicht bebaute Flächen. Kaum ein Quadratmeter in dem dicht besiedeltem Land bleibt ungenutzt.
Frieden, Gesundheit und grosse Weisheit
Kaohsiung, mit 2,7 Millionen Einwohnern drittgrösste Stadt des Landes, ist ein wichtiges Industriezentrum und zugleich grösster Überseehafen. In der Umgebung liegt mit dem Kenting-Nationalpark mit tropischem Regenwald und schönen Badestränden einer der bedeutendsten Naturschätze Taiwans.
Unser Ziel ist aber Foguangshan. Dort wartet uns mit dem „Berg des Buddhalichtes“ eines der bedeutendsten buddhistischen Zentren des Landes. 480 vergoldete übermannsgrosse Buddhafiguren, überwacht von einer 30 Meter hohen Statue, sind das weithin sichtbare Wahrzeichen. „Wer die grosse Glocke im Tempel schlägt, hat drei Wünsche offen“, sagt Michelle. Ein Mönch reicht goldene Kärtchen, die an einem Gestell befestigt werden. Auf „Frieden“ folgen „Gesundheit“ und „grosse Weisheit“. Auf dem Weg zum berühmten Sun Moon Lake machen wir Station in Tainan, der ältesten Stadt Taiwans. „Tainan ist so etwas wie die Seele unseres Landes“, berichtet Michelle. Die beiden Forts Zeelandia und Provintia sind historische Zeugen aus dem 17. Jahrhundert, als die Niederländer ihre Ansprüche auf den Inselsüden gegenüber Spaniern und Portugiesen sichern wollten.
1661/62 gelang aber dem chinesischen Feldherrn Cheng Cheng-kung die niederländische Fremdherrschaft zu beenden. Beide Festungen sind heute zu besichtigen, und auch Konfiziustempel und das Anping-Viertel lohnen einen Besuch. Der mitten im Zentrum der Insel gelegene Sun Moon Lake romantisiert die Inselbewohner. Der 762 Meter hoch gelegene Bergsee erinnert etwas an die alpine Landschaft der Schweiz, allerdings sind grosse Teile des Ufers mit Hotelanlagen überfrachtet. Wir schwingen uns auf das Fahrrad, erkunden ein Teil des Ufers vom Sattel aus. Schöner ist eine Bootstour. Das machen auch die meisten Hochzeitspaare, die am See ihre Flitterwochen verbringen. Beliebt sind Ruderboote – er rudert, sie geniesst die Aussicht. Und wichtig – alles muss fotografiert werden.
It’s Teatime
Taiwan ist auch ein Land der Teetrinker. Allerdings waren es die Japaner, die während ihrer Zeit als Besatzungsmacht den Anbau von Tee am Sun Moon Lake begründeten. Heute führt Shih Zhu Hua den Familienbetrieb Hugosum in zweiter Generation. „Teetrinken ist eine Kunst“, erklärt A-To. Bei einem Rundgang durch die Plantagen erklärt er, dass die Bedingungen für den Anbau von Tee in der Region perfekt sind. Wir erfahren auch viel über die unterschiedlichen Teesorten. Oolong-Tee zum Beispiel wird nur halb fermentiert und entfaltet deshalb eine grosse geschmackliche Bandbreite. A-to weiss, wie es geht und erteilt uns eine Lektion im richtigen Aufbrühen eines Oolong-Tees: „In diesem Tontopf koche ich das Wasser, lasse es einen Moment abkühlen und benutze es erst einmal zum Anwärmen von Kanne und Tassen. Danach erst kommt heisses Wasser über die Teeblätter. 45 Sekunden muss das Gebräu ziehen, doch der erste Aufguss kommt in den Ausguss. Jetzt aber sind die Teeblätter aufgegangen und bereit, ihren Geschmack abzugeben. Dafür giesse ich die Kanne wieder auf und verteile die Flüssigkeit in die kleinen Tassen“. Tee Kochen könne jeder, aber um es richtig zu zelebrieren, bedürfe es langer Erfahrung, beton A-To. Uns schmeckt der Tee jedenfalls ausgezeichnet und besonders gesund ist er ja auch noch.
Bunte Laternen
Da wir zur Zeit des chinesischen Neujahrs unterwegs sind, erwartet uns in Taichung noch ein besonderes Erlebnis zum Abschluss unserer Rundreise. Je nach Mondkalender feiern die Chinesen ihr Neujahrsfest alljährlich zwischen Ende Janaur und Mitte Februar. Die Feierlichkeiten dauern zwei Wochen. Erst das Laternenfest zum Frühlingsvollmond beschliesst das Neujahrsfest. Ganz Taichung hat sich herausgeputzt – überall hängen kunstvoll gestaltete, riesige Laternen – je höher sie hängen, umso glücklicher wird das nächste Jahr. Der Ursprung des Laternenfests geht auf einen Glauben im alten China zurück. Die Menschen glaubten, dass man in der ersten Vollmondnacht des Jahres die Geister umherfliegen sehen könne.
Auf der Suche nach ihnen zogen die Gläubigen mit Fackeln durch die Nacht, und Eltern gaben ihren Kindern Laternen mit auf den Weg in die Schule – als Symbol für eine strahlende Zukunft. Mit der Zeit hat sich der jahrhundertealte Brauch zu einem riesigen Spektakel mit Umzügen, dramatischen Bühnenaufführungen und Lasershows entwickelt. Die Hauptfeierlichkeiten finden jedes Jahr in einer anderen Stadt statt. 2020, im Mondkalender ist es das Jahr der Ratte, war Taichung Austragungsort. Natürlich spielte das kluge und wissbegierige Tier eine Hauptrolle. Es war auf Lampionen zu sehen und sogar als Saxophon spielende, bunt leuchtende, riesige Figur. Es heisst, die Ratte ist ein fleissiger Überlebenskünstler, und ihre Intelligenz hilft ihr dabei, sich in der Welt zurechtzufinden. Im Angesicht der weltweiten Corona-Krise sind diese Eigenschaften sicher für die ganze Welt notwendig.